Es ist richtig Feuer in den Gesprächen über TikTok. Die Kritiker sehen sich bestätigt, wenn an Weihnachten Videos von Koma-saufenden Jugendlichen auftauchen. Oder wenn eine 13-jährige Influencerin eine absurde Angst vor dem Dritten Weltkrieg äußert und dafür medial in Stücke gerissen wird. Oder wenn eine bekannte TikTok-Influencerin im Video einen Flugzeugtoilettensitz ableckt und über die Plattform zur geschmacklosen Coronavirus-Challenge aufruft.
Die nüchternen Beobachter sehen, dass es noch nie eine Plattform gab, die schneller wuchs. Sie sehen auch, dass die dort ansässige junge Zielgruppe kein TV mehr schaut und für FMCG-Marken kaum mehr erreichbar ist, wenn nicht über Social Media.
Das sollte man wissen . . .
Um die Diskussion zu versachlichen, sollte man zunächst auf relevante KPI und Fakten schauen.
- TikTok ist mobile only und Video only
- TikTok-Videos sind extrem kurz, meist kleiner 15 Sekunden
- TikTok Videos laufen im Hochformat
- TikTok führt seit August 2019 regelmäßig die Hitliste der Downloads in den App-Stores an
- TikTok gibt es in 75 Sprachen für 150 Länder
- Bytedance (die Betreiber) sagen, TikTok gewinne monatlich 100 Millionen Nutzer dazu. Adage hat im Oktober 2019 veröffentlicht, dass es schon 800 Millionen Nutzer gibt. Die Milliarde dürfte also mittlerweile gut überschritten sein.
TikTok arbeitet anders als Instagram: Eine KI im Hintergrund sammelt Empfehlungen, basierend auf dem Content, den sich der Nutzer anschaut. „Man folgt eher Inhalten als Menschen“, erklärt Gudrun Herrmann, Head of Communications DACH von TikTok.
Und die Inhalte sollten es in sich haben, denn die Gemeinde ist ungeduldig. „Wer langweilt, fliegt raus“, sagt Social-Media-Experte Felix Beilharz. Er empfiehlt, dass Unternehmen 30 Videos produzieren, um ihren Stil zu finden, bevor sie mit dem Kanal öffentlich starten.
Man muss organisch starten, denn Werbeformate fehlen bislang. Sie werden zwar in anderen Ländern derzeit erprobt, sind aber für Deutschland noch nicht freigeschaltet. Das zwingt zur Kreativität und das ist auch gut so. Zumindest in der Anfangsphase hat TikTok den schönen Status „Earned Media“.
Otto hat seine User auf der Plattform aufgefordert, sich über sich selbst lustig zu machen. Unter dem Hashtag #machdichzumottto entstanden 60.000 Videos von Usern. Insgesamt erzielte die Kampagne 160 Millionen Views (nach Zählung von Bytedance!). Für Punica erstellten die User 35.000 Videos wie sie im Splitscreen gemeinsam mit Früchten tanzen. 40 Millionen Views stehen unter #punicadance zu Buche.
Die Tagesschau ist auf TikTok. Dort wird in Kurzfilmen erklärt, was der Hintergrund zu aktuellen Nachrichten ist. Aber der Kanal zeigt eben auch, dass sich Moderator Ingo Zamperoni tierisch auf Pommes freut, sobald die Kameras „vermeintlich“ abgeschaltet ist.
Das charmante an TikTok ist die Fokussierung auf User Generated Content. Die Video-Tools sind einfach zu bedienen und bieten neue Effekte wie zum Beispiel den Greenscreen. Das lockt natürlich auch Profis wie Chris Tall, Rezo oder Loredana an, und die ziehen wiederum ihre Follower mit sich.
. . . und das muss man diskutieren
Aber natürlich ist nicht alles rosig, was auf so einer riesigen Plattform passiert. Ganz im Gegenteil. „Wir gehen nicht auf TikTok, das ist für unsere Marke nicht sicher genug“, sagte Maike Abel für Nestlé jüngst auf der Adtrader-Konferenz.
Diese Haltung hat gleich mehrere triftige Gründe: Zunächst einmal kommt die Plattform aus China. Das wirft Fragen über die Verwendung der Nutzerdaten und den Datenschutz auf. Auch die Zensur missliebiger Inhalte geht deutlich über das hinaus, was man von Facebook und Instagram gewohnt ist. Offiziell zugegeben hat TikTok die Tatsache, dass Accounts von Menschen mit Behinderung weniger häufig im Feed ausgespielt wurden. Das solle Mobbing verhindern, sagt TikTok nach Informationen des ZDF. Inzwischen sind die Guidelines aktualisiert worden.
Natürlich wird man zu jedem politischen oder gesellschaftlichen Thema auf TikTok User finden, die Unsinn posten, wie Laura Sophie mit ihrer Warnung vor dem Dritten Weltkrieg. Umgekehrt hat sich die WHO Anfang März bei dem Dienst angemeldet, um die Desinformation bezüglich des Coronavirus gezielt zu bekämpfen.
Aber diese Kritik richtet sich weitgehend gegen alle Social Media Plattformen und TikTok ist hier nur die neueste Erscheinungsform. Dafür braucht es Regeln, die Durchsetzung dieser und eine Aufklärung hin zur medienkompetenten Nutzung. Die aktuelle Werbefreiheit auf TikTok empfinden viele User als einen Segen und die Marken müssen sich echt anstrengen, um virale Aufmerksamkeit zu erlangen. Das kann auf keinen Fall schlecht sein.