Schon am Eingang dreht sich das Glücksrad. Hauptgewinn: drei Artikel gratis. Dahinter ein Paradies der kleinen Preise: Elektrorasierer für 3,82 Euro, Sneakers mit Blumendekor für 9,48 Euro, ein Ringgrößen-Messband für 37 Cent. Sämtliche Bestellungen sind gratis, desgleichen Retouren.
Hineinspaziert in eine Welt, in der vor allem eins verkauft wird: das Gefühl zu schwelgen. Bei Temu verfallen auch Menschen mit schmalem Budget in Kaufrausch: Alles scheint verfügbar, nahezu umsonst, mit immer neuen Lockangeboten und viel virtuellem Glitter. „Einkaufen wie ein Milliardär“, lautet der Claim der App.
Deutschlands E-Commerce hingegen hat ein Problem. Während die Online-Umsätze seit dem Ende der Corona-Pandemie stagnieren, treten asiatische oder mit Asien verbandelte Plattformen als neue Wettbewerber auf. Erst sorgte Fast-Fashion-Händler Shein mit KI-gestützten Trendanalysen für Furore. Jetzt ist es der Everything-Store Temu aus den USA: supergünstig, superaggressiv und datenhungrig. Im Frühjahr startete die App in Deutschland; in Rekordzeit stieg laut Similarweb die Zahl der Visits auf der Website von wenigen Tausend auf mehr als 34 Millionen monatlich. Von einem „unübersehbar starken Auftritt“ spricht Hansjürgen Heinick, E-Commerce-Experte des Instituts für Handelsforschung Köln (IFH Köln).
Sorgen bereitet das nicht nur etablierten Playern wie Amazon, Otto oder Zalando. Tina Weber ist Professorin für International Fashion Retail am Texoversum der Hochschule Reutlingen. Sie sagt: „Unter Nachhaltigkeits-Gesichtspunkten sind diese Geschäftsmodelle eine Katastrophe. Sie konterkarieren alle Bemühungen, das Thema Billigmode in den Griff zu bekommen.“ Temu selbst sieht das natürlich anders. „Wir wollen das tägliche Leben der Verbraucher*innen positiv beeinflussen, indem wir Qualitätsprodukte zu erschwinglichen Preisen anbieten“, heißt es auf Anfrage der absatzwirtschaft.
Fordernde Push-Nachrichten und riesiges Marketingbudget
Das in Boston (Massachusetts) gegründete Unternehmen ist eine Tochter von PDD Holdings, einem Konzern mit chinesischen Wurzeln und Firmensitzen in Shanghai und Dublin. Vorbild ist die Schwester-App Pinduoduo in China. Im Unterschied zu Shein, das mit einer vertikalen Wertschöpfungskette begann und sich erst jetzt zum Marktplatz wandelt, definiert sich Temu von Beginn an als Mittler zwischen den Herstellern und der Kundschaft. Produziert wird nach Bestelleingang; Lagerhaltung und Zwischenhändler gibt es kaum. Zugleich versucht die App, Fehler zu vermeiden, wie sie etwa der Plattform Wish unterliefen. Diese geriet nach Anfangserfolgen wegen ausufernder Lieferzeiten in die Kritik. Temu nennt kurze Fristen und verspricht bei Verspätung Gutschriften.
Die Mischung kommt an, nicht nur weil viele Konsument*innen inflationsbedingt weniger Geld in der Tasche haben. Jüngere Zielgruppen gewinne die App dadurch, dass sie den Einkauf konsequent als Entdeckungsprozess gestalte und sich im Aufbau an Social Media orientiere, sagt Robert Klipp, Geschäftsführer der Agentur My Best Concept (MBC) in Bochum. Egal wie lange und wie weit man scrollt, „es kommt immer neuer Content nach“. Von TikTok, Instagram und Co. habe sich Temu zudem den Empfehlungsalgorithmus abgeschaut und ihn hochgeschraubt: „Durch extrem fordernde Push-Nachrichten sollen Nutzerinnen und Nutzer immer wieder zu erneuten Käufen animiert werden.“
Um Temu zu etablieren, investiert die Muttergesellschaft ein enormes Marketingbudget: Nach einem Bericht des US-Technikmagazins „Wired“ stehen in den USA dieses Jahr rund 1,4 Milliarden Dollar für Kampagnen zur Verfügung, 2024 sollen es 4,3 Milliarden Dollar sein. Zahlen für Deutschland sind nicht bekannt, doch eine Flut von Social-Media-Ads zeigt, dass auch hier nicht gespart wird. Überdies fließt viel Geld in Influencer Marketing, Affiliate und Referral Marketing: „Teile und verdiene bis zu 100 000 Euro pro Monat“, bewirbt Temu sein Partnerprogramm. Zur Kundenbindung stehen in der App Spiele wie Fishland oder Farmland bereit, bei denen Gutscheine und Geschenke zu gewinnen sind.
Zollfreie Einzelbestellungen – ein „systematischer Missbrauch“?
Die deutschen Verbraucherzentralen raten Kund*innen zur Vorsicht, nicht zuletzt bei der Datenfreigabe. Doch MBC-Marketer Klipp findet Temus Strategie genau richtig: „Bei der Generation Z kommen Unternehmen mit subtiler Werbung nicht weit; grell, laut, leicht verständlich und auf den Punkt muss es sein.“ Für ihn ist die App „unaufhaltsam auf dem Weg an die Spitze des E-Commerce-Marktes“.
Zu den Schattenseiten des Modells gehört die Ökobilanz. Zwar ist die Lieferkette perfektioniert; Temu produziert ja kaum vorab Ware, die dann mangels Abverkauf später vernichtet werden muss. „Aber hinter der Qualität der Produkte und den Arbeitsbedingungen steht ein riesiges Fragezeichen“, sagt Nino Bergfeld, Handelsexperte bei Salesforce (das Kurzinterview mit ihm lesen Sie hier). Und die Billigpreise verleiten selbst Verbraucher*innen zu unmäßigem Konsum, denen Nachhaltigkeit wichtig ist – ein Phänomen, das im Marketing als Attitude-Behaviour Gap bekannt ist. „Es verlangt eine gewisse Selbstkontrolle, sich nicht verführen zu lassen“, urteilt Expertin Weber. Stellt sich heraus, dass die Qualität nicht stimmt, landen viele der Cent-Artikel im Müll.
Gegenüber der absatzwirtschaft räumt Temu ein, beim Thema Nachhaltigkeit „noch am Anfang“ zu stehen: „Dennoch haben wir in Zusammenarbeit mit Trees for the Future bereits über 1,3 Millionen Bäume in ganz Afrika gepflanzt.“ Trees for the Future ist eine US-amerikanische Umweltorganisation.
Baumpflanzungen ändern freilich nichts daran, dass das Prinzip „Produktion auf Nachfrage“ nur mit Luftfracht funktioniert, jedenfalls wenn diese Produktion im fernen Asien geschieht. Viele Bestellungen, bestätigt Temu, würden wegen der höheren Frequenz von Frachtflügen aus China zunächst in die Niederlande oder nach Belgien eingeflogen und anschließend nach Deutschland weitergeleitet. Dadurch könne man „eine schnellere Lieferung gewährleisten und so die versprochenen Fristen besser einhalten“. Nach dem Bericht eines amerikanischen Kongressausschusses verursachen Shein und Temu in den USA zusammen ein Drittel aller Einzelsendungen – rund 600.000 Sendungen täglich. Und dies, wegen des niedrigen Warenwerts einer Einzelbestellung, in der Regel zollfrei.
In Europa ist genau das ein Kritikpunkt vonseiten des etablierten Handels. Der wirft der neuen Konkurrenz vor, sich über Spielregeln und Vorschriften hinwegzusetzen. „Die Beibehaltung der Zollbefreiung für Waren bis zu 150 Euro führt zu systematischem Missbrauch dieses Schwellenwerts“, schreibt Stephan Tromp vom Handelsverband Deutschland (HDE) in einem Newsletter. Unterlaufen würden auch die hohen Sicherheits- und Produktionsstandards der EU. „Viele Produkte, die online aus Asien bestellt werden, genügen diesen Anforderungen nicht“, sagt Experte Heinick.
Ökodesign-Verordnung soll auch für Marktplätze gelten
Temu weist diese Kritik zurück. „Als Marktplatzbetreiber erwarten wir von den Händlern auf unserer Plattform, dass sie sich strikt an alle einschlägigen Gesetze und Vorschriften halten.“ Seit Markteintritt in die EU habe man „Überwachungs- und Qualitätskontrollsysteme sorgfältig verfeinert“ und Produkte, die Anforderungen wie das CE-Siegel nicht erfüllen, „umgehend aus dem Angebot genommen“.
Selbst Wettbewerber räumen ein, dass sich von der neuen Konkurrenz lernen lasse, vom schnellen Aufgreifen von Trends über plakative Deals bis hin zu Mengenrabatt durch Gruppenbestellungen, wie sie Temus Schwester-App in China ermöglicht. Keine Abstriche wolle man hingegen bei der Nachhaltigkeit machen, nicht zuletzt mit Blick auf die Ökodesign-Verordnung der EU, die derzeit vorbereitet wird. Diese wird deutlich höhere Ansprüche an die Recycling- und Reparaturfähigkeit von Produkten formulieren. Und der Entwurf nimmt nicht nur Hersteller, sondern ausdrücklich auch Marktplätze in die Pflicht. Spätestens dann dürfte sich das Zeitfenster für Temus Geschäftsmodell schließen.