An den Beispielen und anhand des Whitepapers lässt sich ablesen, dass hinter Programmatic Creation mehr steckt als nur ein visionär klingender Begriff. Doch wie bewertet die Kreativbranche diese Entwicklung, verspricht Programmatic Creation eine glorreiche Zukunft oder birgt die enge Kopplung des kreativen Schaffensprozesses an Daten die Gefahr der Fantasielosigkeit und Stumpfheit? In den Augen von Sebastian Kemmler, Geschäftsführer von Kemmler Kemmler, ganz klar nicht. Informationen und Daten über die Zielgruppe und deren Bedürfnisse seien immer gut und würden dramatisch helfen, bessere Ideen zu entwickeln und relevanter zu kommunizieren. „Die Erfindung des Strategic Planners beruhte auf dieser Einsicht und hat sich in allen Topagenturen der Welt durchgesetzt. Was sich verändert hat, ist, dass der Planner heute nicht mehr mit dem Fernglas, sondern mit digitalem Präzisionswerkzeug unterwegs ist. Musste der Planner früher in muffigen Räumen ein Dutzend Menschen in Fokusgruppen befragen, kann er heute soziale Konversationen von Tausenden von Konsumenten in Echtzeit beobachten. Musste er früher seine Zielgruppe anhand von zehn veralteten Sinus-Kartoffeln bestimmen, kann er heute eine eigene Segmentierung aufgrund von Real-time-Modelling bauen. Hat er früher eine Botschaft für einen TV-Spot geschrieben, kann er heute punktgenau kommunizieren“, sagt Kemmler, der zu dem Schluss kommt, dass jede gute Kampagne auf einem guten Insight basiert: „Und Daten helfen dem Strategic Planner, diese Insights zu finden.“ Daten seien somit eine große Chance für bessere Kreation. Die besten Kreativen würden Daten aktiv einforden, denn sie helfen dabei zu verstehen, wo tatsächlich der Schuh drückt. „Gleichzeitig produzieren Daten keine Ideen. Sie können ein Sprungbrett sein, mehr nicht. Computer sind weder lustig noch ironisch, sie sind weder schüchtern noch großmäulig, sie sind weder arrogant noch bescheiden. Kurz, sie kennen keine Empathie und haben keine Persönlichkeit. Insofern können sie vielleicht Werbung produzieren, die Bekanntheit schafft, aber keine Kommunikation, die emotional berührt. Und emotionale Aufladung ist, was die meisten Marken am dringendsten brauchen“, sagt Kemmler.
Kreativität wird nicht sterben
Auch Norbert Möller, Executive Creative Director der Peter Schmidt Group in Hamburg, geht nicht davon aus, dass uns durch den vermehrten Einsatz von Daten die Kreativität verloren geht: „Auch wenn wir Daten nutzen, um Botschaften an Zielgruppen anzupassen, so müssen die jeweiligen Bausteine doch immer noch entwickelt werden. Jemand muss sich Gedanken machen – und letztlich ist dies auch ein kreativer Prozess.“ Einen Widerspruch zur Kreativität sieht er also nicht. „Vielleicht entsteht in der Entwurfsphase jedoch ein anderes Gefühl: Wenn man nicht ein finales Resultat erschafft, sondern mehrere Alternativen, so kann sich das schnell nach Fließbandarbeit anfühlen. Aber grundsätzlich ist die intellektuelle, kreative Herausforderung doch die gleiche, vielleicht ist sie sogar noch etwas anspruchsvoller.“
„Es entsteht mehr Arbeit für alle“
„Störend sind Daten nur, wenn sie erst nach dem Kreationsprozess ausschließlich zur Verschlimmbesserung der kreativen Leistung dienen, im Sinne verwässernder Marktforschungsergebnisse, die den langweiligsten gemeinsamen Nenner zum Ziel haben“, schließt sich Stefan Mohr, Managing Director der Jung von Matt/Next, an. Er sieht in Programmatic Creation grundsätzlich mehr Chancen als Gefahren. Denn Programmatic Creativity zeige in den besten Fällen, dass die kreativere Lösung die bessere, wirkungsvollere, günstigere, emotionalere und markenrelevantere ist. „Die Möglichkeiten zu Messung, dynamischer Ausspielung, Testen von Varianten et cetera sind alle dazu geeignet, schlechte von guter Kommunikation trennen zu können, vor und während der Erstellung. Der User ist ohnehin maximal desinteressiert an langweiliger Kommunikation, digitale Kreation muss darauf eine Antwort finden und endlich interessanter werden.“ Und zu guter Letzt sei die systematische Aufbereitung von Botschaften für Brandingagenturen ohnehin gewissermaßen die Norm, meint Möller. „Wir müssen sowieso in Systemen und Automatisierungen denken. Das heißt aber nicht, dass wir gute zielgerichtete Kreation nicht wertschätzen. Heute wird die Werbung ja auch zielgruppenspezifisch entwickelt, und diese Anforderung ändert sich bei einer programmatischen Werbung nicht. Und der Computer macht ja nicht die Kreation, sondern setzt etwas neu zusammen, was sich ein Kreativer ausdenken muss. Ein logisches Fazit könnte also sein: Es entsteht mehr Arbeit für alle – nicht nur für Data-Analysten, Strategen und IT, sondern auch für die Kreation.“
Werden Kreative von „Mehr“-Arbeit erdrückt?
Doch bedeutet mehr Arbeit auch gleich mehr Aufwand? „Ohne Zweifel wird es zukünftig zu Mehraufwand kommen“, bestätigt Mark Burow, Head of User & Brand Experience bei der Full-Service-Webagentur Namics, der dem Ganzen jedoch viel Positives abgewinnen kann: Zum Beispiel gebe es durch die individuelle Kundenansprache mehr kreative Möglichkeiten und weniger Kompromisse zulasten der entwickelten Ideen. „Zudem kann mehr Arbeit auch mehr Umsatz bedeuten: Wer den Erfolg seiner Kampagnen auf Basis der erhobenen Daten misst, kann die zusätzlichen Aufwände Kunden gegenüber rechtfertigen. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass der entstandene Mehraufwand wiederum bei der Mediaplanung weitestgehend wegfällt.“ Auch der unabhängige Marktforscher und Dozent Dirk Engel plädiert dafür, den befürchteten Mehraufwand zu relativieren. Denn Automation und Algorithmen würden an bestimmten Stellen Prozesse sogar vereinfachen und Zeit sparen. Schon heute gebe es Bereiche der Marketingkommunikation, in denen eine Individualisierung mit großer Effizienz verwirklicht werden kann, etwa im E-Mail-Marketing. „Wichtig ist, dass man sich auf die neuen Aufgaben einstellt. Wenn jedes Werbemittel ein singuläres Kunstwerk werden soll, dass einzeln von Marketingleiter und Geschäftsführung abgesegnet werden muss, funktioniert das alles nicht. Die Arbeitsabläufe müssen an die technische Flexibilität angepasst werden: klare strategische Richtlinien, praktikable Guidelines, automatisierte Prozesse, ein gutes Projektmanagement, schnelle Abstimmung und Freigaben“, so Engel.
Neue Arbeitswelt: Wenn Data-Experten und Kreative zusammensitzen
Veränderte Arbeitsabläufe ziehen der Logik folgend natürlich auch veränderte Berufsbilder nach sich. Dass sich künftig aber Datenspezialisten zu den Kreativen gesellen und mit ihnen in einer Abteilung sitzen werden, glaubt Möller nicht, aber: „Sie werden nebenan sitzen. Denn sie müssen den Algorithmus erklären, damit die Kreation ihre Ideen auf die einzelnen Module herunterbrechen kann. Die Datenspezialisten werden dann auch unterschiedliche Prototypen entwickeln, mit denen die Kreativen unmittelbar die Funktionsfähigkeit der modularen Bausteine testen können. Und letztendlich muss die Kreation – wie schon heute – mit ihren Botschaften die Zielgruppen erreichen. Wenn das nicht passiert, dann ist Programmatic Advertising für die Katz.“ Engel geht noch einen Schritt weiter. Er geht nämlich sehr wohl davon aus, dass Datenspezialisten eben doch überall sitzen werden, und damit auch in den Kreativabteilungen sowie sogar in der Geschäftsführung. Die Fusion von Datenintelligenz, strategischem Denken und Schöpferkraft werde die zentrale Herausforderung für Agenturen. „Die Zeiten sind bald vorbei, in denen eine Kampagne als singuläres Kunstwerk in einem großen Kraftakt durch Nachtschichten kurz vor der Deadline entwickelt wird, damit sie der charismatische Agenturchef mit seinen Pappenträgern anderntags einem Gremium von bedenkentragenden Managern zum Abnicken vorlegt“, prophezeit Engel. Doch viele Agenturen und noch mehr Marketingabteilungen würden in ihren Arbeitsprozessen und in der internen Organisation der technischen Entwicklung meilenweit hinterherhinken. Auch die Aus- und Weiterbildung aller Beteiligten am Marketingprozess werde bisher noch sträflich vernachlässigt. „Technikverständnis, Projektmanagement und das Finden von strategisch relevanten Insights muss bei allen Mitarbeitern trainiert werden. Die Hoffnung, dass es schon genug junge Leute geben wird, die solche Kenntnisse mitbringen und auch noch in Agenturen arbeiten wollen, ist naiv“, sagt Engel.
Symbiose von Technologie und Kreation eröffnet neue Chancen
Abschließend scheinen sich die Kreativen wohl weitgehend einig, dass in Technologie und Kreation nicht per se ein Widerspruch stecken muss. Vielmehr müssen beide Disziplinen zusammenwachsen und als Sprungbrett für eine verbesserte Werbepersonalisierung fungieren. Denn auch jetzt empfinden viele Verbraucher Werbung noch immer als Störfaktor und fühlen sich, als seien sie tagtäglich einem Bombardement aus überflüssigen Werbemitteln ausgeliefert. Nutzen Werbungtreibende aber ihre Daten, um Produkte treffsicherer bei den richtigen Verbrauchern zu bewerben und Kreationen personalisierter zu gestalten, könnte Werbung eine neue Chance bekommen – eine Chance auf mehr Glaubwürdigkeit, mehr Sympathie und Nützlichkeit aus Sicht der Verbraucher. Daten und Automatisierung sollten somit nicht abschrecken, sondern ermutigen.
Im Experten-Interview beantwortet Ole John (Chief Operating Officer bei Impossible Software), warum er zu folgender Auffassung gelangte: Programmatic Creation ist schon lange umsetzbar, den Agenturen fehlt es nur an Mut, sich an neue technische Möglichkeiten zu wage.
Lesen Sie zudem hier den ersten Teil der Strecke „Licht an für die Automatisierung! Licht aus für die Kreation?“.