Scott Brinker braucht nur zwei Sätze. „Menschen und Organisationen ändern sich nicht so schnell wie Technik. Wie kriegen wir das zusammen?“ Damit beschreibt der amerikanische Blogger und Softwarespezialist das Grundproblem aller Kollegen, die in dem spannungsreichen Feld von Marketing und Technologie tätig sind – und gegen alle Widerstände daran arbeiten, ihre Unternehmen fit zu machen fürs 21. Jahrhundert.
Es spricht für sich, dass Brinker Hoffnung aus dem Tempo zieht, mit dem sich Firmen auf die Corona-Krise eingestellt haben. „Vielleicht kann Wandel doch schneller gehen, als wir dachten?“
„It’s the organization, stupid.„
Veränderung ist das zentrale Thema des diesjährigen Marketing Tech Summit 2020, veranstaltet vom Hamburger Marketing Tech Lab. Dessen Geschäftsführer (und Präsident des DMV) Ralf E. Strauß macht in Anlehnung an einen berühmten Ausspruch des früheren US-Präsidenten Bill Clinton klar, wo der Hase im Pfeffer liegt: „It’s the organization, stupid.“
Optimieren, neue Einsichten gewinnen, Transparenz herstellen – das alles ist nur möglich, wenn die Kollegen mitziehen und Strukturen anpassen. Man stoße dabei „auf Silos, die wir jahrhundertelang gepflegt haben“, so Strauß. Seine Kollegin Kerstin Clessienne ergänzt: „Ich brauche die richtigen Leute. Ohne neue Rollen geht es nicht.“
Lufthansa-Marketing: Meinung allein reicht nicht
Mar Tech, wie die Disziplin kurz genannt wird, soll die digitale Kommunikation mit den Kunden auf eine neue Qualitätsstufe heben und den Einsatz von Marketing-Instrumenten effizienter machen: Was funktioniert wo? Was nicht? Sich aufs Bauchgefühl zu berufen oder auf Erfahrung, ist passé. Denn, wie es Ute Lauer ausdrückt, Head of Marketing Steering, Intelligence & Processes der Deutschen Lufthansa: „Ohne Daten hast du nur eine Meinung.“ Und die reicht heute nicht mehr.
Kunden erwarten die richtigen Botschaften zur richtigen Zeit, Plattformbetreiber entdecken neue Geschäftsfelder und werden von Partnern zu Konkurrenten – an Herausforderungen mangelt es nicht. Nicht zuletzt erschweren die berüchtigten Walled Gardens – das Datenhorten großer Plattformen wie Google und Facebook – die informierte Kommunikation mit den Kunden.
„Groß denken, aber bis ins Detail runterbrechen„
Die Lufthansa etablierte vor dreieinhalb Jahren ihre neue Unternehmenseinheit mit dem Ziel, Marketing besser zu steuern. Lauer verschaffte sich zunächst einen Überblick über Daten, die an verschiedenen Stellen im Unternehmen lagen, vor allem jedoch bei Agenturen. Als sie den Kollegen nach langer Recherche eine Übersicht präsentierte, „ging ein Raunen durchs Zimmer“, erinnert sie sich. Nach Festlegung von Zielen und Instrumenten sind crossfunktionale Teams nun dabei, Veränderungen umzusetzen. „Groß denken, aber bis ins Detail runterbrechen“, rät Lauer, „denn die Implikationen sind massiv“.
Clevere Tools bei DB Vertrieb
Welche Erfolge sich mit cleveren Lösungen erzielen lassen, zeigt Sven Hasselmann, Bereichsleiter Digitales Marketing und Analytics der DB Vertriebs GmbH. Dank der Entwicklung eines Steuerungs-Tools mit wertbasierter Planung optimiert sein Team digitale Bahnkampagnen jetzt bereits, während diese noch laufen – und steigert so die Werbewirksamkeit der eingesetzten Mittel.
Noch entscheiden Menschen darüber, ob eine Kampagne gestoppt oder ausgeweitet wird, in zwei bis drei Jahren aber werde das per Künstliche Intelligenz geschehen, prognostiziert Hasselmann. Auch kann er sich vorstellen, den Ansatz auf Offline-Kampagnen zu übertragen. „Eins nach dem anderen.“
Typische Change-Widerstände
Wer sich daran macht, den Status Quo zu verbessern, trifft auf typische Change-Widerstände: Kollegen, die das Projekt als überflüssig ablehnen; Führungskräfte, die gleich den ganz großen Wurf verwirklicht sehen wollen; hauseigene IT-Spezialisten, die an der vertrauten Technik festhalten wollen.
„Fordert kleine Schritte ein, wenn die großen nicht möglich sind“, empfiehlt Thomas Spengler, Chief Customer Officer des Spezialversands Internetstores, seinen Marketing-Kollegen. Und: „Maximale Einbindung aller Stakeholder, damit die Betroffenen nicht zu Gegnern des Projekts werden.“
Von 150 auf 8000 Marketing-Technologien
Während die Unternehmen mit der Umsetzung kämpfen, kommen immer neue Lösungen auf den Markt. 2011 seien rund 150 Marketing-Technologien verfügbar gewesen, heute seien es mehr als 8000, sagt Mar-Tech-Experte Brinker. „Und es ist immer noch ein sehr starkes Wachstumsfeld“.
Weil die Instrumente zur App-Kreation immer besser und einfacher werden, könnten künftig sogar Marketer ohne Programmierkenntnisse zu Entwicklern werden. Den besorgten Zuhörer, der wissen will, ob selbstgebastelte Lösungen künftig die von Dienstleistern ersetzen würden, beruhigt er jedoch: „Der Bedarf an echten Profis bleibt.“