„Diese Sichtweise ist schlichtweg falsch“: Tech-Experte räumt mit dem Vorurteil von China als „Raubkopierer“ des Westens auf

Wer die Berichterstattung für die internationale Tech-Szene in deutschen Medien verfolgt, könnte meinen, dass es neben Facebook, Apple, Google und Amazon keine globalen Trendsetter gibt. Tu-Lam Pham hält das für einen schwerwiegenden Irrtum und sieht vor allem das Reich der Mitte auf dem Vormarsch. "
Tu-Lam Pham ist Digitalexperte und berät Unternehmen in den Feldern E-Commerce und Social Media Foto: privat

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Die chinesische Digitalwirtschaft ist in den vergangenen Jahren mit Riesenschritten gewachsen, allen voran die BAT-Unternehmen Baidu, Alibaba und Tencent. Können die großen China-Player den großen US-Tech GAFA-Unternehmen Google, Apple, Facebook sowie Amazon langfristig den Rang ablaufen?

Tu-Lam Pham: Ein Blick auf die aktuellen Börsenbewertungen zeigt: Alibaba (507 Mrd. USD) und Tencent (482) spielen durchaus schon in einer Liga mit ihren US-Pendants (Amazon 778, Facebook 538) und gehören damit heute zu den wertvollsten Unternehmen der Welt. Baidu (84) ist hier im Vergleich mit Google (751) eher weit zurück. Zum Vergleich: BMW, Daimler und VW sind zwischen 70 und 100 Mrd. USD wert.

Ich denke die USA und Europa bleiben erstmal relativ fest in der Hand der GAFA-Unternehmen, während die BAT-Unternehmen in Asien dominieren, wobei sie zunehmend auch Ambitionen haben, in die westliche Welt zu expandieren. Spannend wird sein, wer das Rennen um den Rest der Welt macht, das halte ich für relativ offen, so ist zum Beipsiel AliExpress von Alibaba die meistbesuchte E-Commerce Seite Russlands.

Welches der drei BAT-Unternehmen besitzt nach Ihrer Einschätzung das größte Potenzial?

Alibaba ist exzellent aufgestellt: im B2B-E-Commerce mit der Plattform Alibaba, im B2C-E-Commerce mit den Plattformen TMall, TaoBao und AliExpress. Das Tochterunternehmen Ant Financial mit dem Payment Dienst AliPay ist heute schon das wertvollste Fintech Unternehmen der Welt und die Alibaba Cloud bietet ähnliche Dienste an wie Amazon Web Services. Diese Plattformen und Services haben auch international ein starkes Potenzial.

Wie sieht es in der zweiten Reihe aus: Welche jüngeren Tech- und Internet-Unternehmen besitzen das Potenzial, einmal zu einem zweiten Tencent oder Alibaba heranzuwachsen?

Nach den BAT-Unternehmen folgen die TMD-Unternehmen: Toutiao, Meituan Dianping und Didi Chuxing. Toutiao ist eine extrem erfolgreiche, KI-basierte News-App und Meituan kann man sich wie eine Kombination aus Groupon, Yelp und Foodora vorstellen. Didi ist eine Taxi/Ridesharing App, vergleichbar mit Uber. Uber musste sein China-Geschäft aufgeben und an Didi verkaufen, weil sie den ruinösen Preiskampf mit Milliardenverlusten nicht länger durchhalten konnten. Die TMD-Unternehmen haben Bewertungen zwischen 20 und 80 Mrd. USD und spielen damit in einer Liga den amerikanischen Super-Unicorns wie AirBnb und Uber.

Xiaomi, das gerne als das „Apple Chinas“ bezeichnet wird, strebt an die Börse – und das möglicherweise zu einer Bewertung von bis zu 100 Milliarden US-Dollar. Besitzt Xiaomi das Potenzial, Apple ernsthaft herauszufordern zu können?

International gesehen ist Apple in einer einzigartigen Situation: klare Marktführerschaft im Premium-Segment, ein starkes Ökosystem aus Hardware und Software und die loyalsten und zahlungskräftigsten Kunden. Da kann niemand mithalten. Chinesische Anbieter wie Xiaomi oder auch Huawei sind eher ein Problem für Samsung, weil sie um die gleichen Android-Kunden kämpfen und mittlerweile auch sehr hochwertige Handys zu guten Preisen anbieten. Wobei man dazu sagen muss, dass das iOS-Ökosystem für Apple in China ein nicht ganz so großer Vorteil ist wie im Westen, da sich chinesische User meist in plattformübergreifenden Apps wie WeChat von Tencent aufhalten.

Auf dem chinesischen Smartphone-Markt haben die großen Player Apple und Samsung zunehmend Probleme und werden von einheimischen Anbietern, allen voran Huawei, aber auch im Westen weniger bekannten Marken wie Oppo und Vivo düpiert. Was machen die chinesischen Smartphone-Hersteller besser – und kann Apple bei der immer günstigeren Konkurrenz langfristig weiter seinen Premium-Ansatz durchsetzen?

Chinesische Hersteller haben einen großen Vorteil: sie sitzen direkt an der Produktionsquelle. Die Stadt Shenzhen ist mittlerweile das globale Mekka für Elektronik-Hardware, und Hersteller wie Foxconn sind auch für Apple die wichtigsten Zulieferer. Das führt einerseits zu niedrigeren Preisen, aber auch mehr Flexibilität, sich noch besser den chinesischen Kundenbedürfnissen anzupassen: zum Beispiel größere Screens und Akkus, da für viele Chinesen das Handy der einzige Computer ist, sowie Dual-SIMs, weil Chinesen oftmals mehrere Telefonnummern haben oder in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Telekom-Anbieter haben.

Apple kann in diesem Punkt nur bedingt mithalten, da sie mit dem iPhone eher einen globalen One-Size-Fits-All-Ansatz haben. Aber die immer größeren iPhone-Plus-Varianten waren sicherlich auch ein Zugeständnis an den chinesischen Markt.

Chancen für deutsche Unternehmen sehe ich in den Bereichen Robotik und Künstliche Intelligenz

Europa ist – mit kleineren Ausnahmen wie Spotify und Zalando – bis heute keine Antwort auf die großen Stars des Silicon Valley gelungen. Was machen chinesische Internet-Unternehmen besser als deutsche?

Man kann das natürlich nur bedingt vergleichen, da China einen viel größeren Binnenmarkt hat. Was den chinesischen Startups hilft, sind die extremen Rahmenbedingungen: knallharter Wettbewerb, gigantische Venture Capital Investments und sehr lange Arbeitszeiten. Wenn zum Beispiel in China ein Lieferservice startet, so muss er von Tag eins an in der Lage sein, eine “kleine” chinesische Stadt mit 5 Millionen Einwohnern perfekt bedienen zu können, das sind ganz andere Anforderungen an die Skalierung. Wann es immer es ein neues Geschäftsmodell gibt, gibt es hunderte von Wettbewerbern, oftmals mit kräftiger Unterstützung von Alibaba und Tencent, von denen sich am Ende nur die Stärksten durchsetzen können, so zum Beispiel Meituan und Didi, die dann den Markt als einzig Überlebende konsolidieren und dann sehr gut aufgestellt sind. Dazu kommt dann noch das chinesische Arbeitsethos, das man gut mit 996 umschreiben kann: Arbeitszeiten von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, 6 Tage die Woche – mindestens!

Welche Wachstumschancen bieten sich umgekehrt deutschen Internet- und Tech-Unternehmen im Reich der Mitte?

Es ist für westliche Consumer Internet Unternehmen sehr schwer, sich in China zu etablieren, siehe Google, Facebook und Uber. Deshalb hat sich auch Rocket Internet immer aus China rausgehalten, der einzig größere Versuch mit einem Groupon-Klon ging eher schief. Rocket Internets Strategie war es ja eher, in Südostasien Unternehmen aufzubauen, so wie den E-Commerce-Player Lazada, der dann von Alibaba übernommen wurde. Aber das wird zunehmend schwieriger, da die chinesischen Unternehmen jetzt schneller nach ganz Asien expandieren. Chancen sehe ich am ehesten in den Bereichen Robotik und Künstliche Intelligenz: hier will China weltweit die Nummer eins werden und sucht immer nach spannenden Unternehmen in diesen Bereichen, entweder für eine Kooperation oder am besten gleich zum Kauf!

Man kann in China überall mit dem Handy zahlen, nicht nur in irgendwelchen Hightech-Showrooms

Was ist der nächste große Tech-Trend, der von chinesischen Internet-Unternehmen bestimmt werden könnte? Besitzen chinesische Unternehmen zum Beispiel mehr Potenzial im nächsten mutmaßlichen Wachstumsmarkt Künstliche Intelligenz?

In den Bereichen Mobile Payment und Commerce ist China weltweit führend, und auch den USA um Lichtjahre voraus. Man kann in China wirklich überall mit dem Handy zahlen, nicht nur in irgendwelchen experimentellen Hightech-Showrooms, sondern bei jedem Marktstand und jedem Straßenverkäufer.

Ein Hauptunterschied sind auch die sogenannten Super-Apps wie WeChat und Alipay, mit denen man so ziemlich alles im Internet machen und auch bezahlen kann: Messaging, Social Media, E-Commerce, offline bezahlen, Essen bestellen, Geldanlage, Stromrechnungen bezahlen… Das wäre auch langfristig das große Ziel von Facebook für Facebook Messenger und WhatsApp, aber davon sind sie noch Jahre entfernt.

In den Bereichen Künstliche Intelligenz, Machine Learning, Bild- und Spracherkennung ist China unheimlich weit. So gibt es zum Beispiel in China bereits tausende von kassenlosen Supermärkten, während Amazon mit Amazon Go bislang erst einen Prototyp-Store in den USA hat. Und auch in den Bereichen der Moblität passieren spannende Dinge: ob Ride-Sharing, Bike-Sharing, E-Mobilität oder autonomes Fahren – China geht voran.

Was heißt das für unsere deutsche Sicht auf die Entwicklung in China?

Viele in Deutschland glauben immer noch, dass China vor allem vom Westen kopiert, statt selbst Innovation voranzutreiben. Diese Sichtweise trifft aber schon lange nicht mehr zu und ist schlichtweg falsch. Da ist oftmals viel deutsche Arroganz, Verblendung und auch Wunschdenken dabei. Man unterschätzt den globalen Wettbewerb, überschätzt sich selbst gnadenlos und sieht daher keinerlei Notwendigkeit, Themen wie die Digitalisierung, den Breitbandausbau sowie Investitionen und Forschung und Bildung ernsthaft voranzutreiben. Das wird nicht mehr lange gutgehen, aber das scheinen leider weder Wirtschaft, Politik noch die Bevölkerung zu realisieren.

Über den Autor: Dr. Tu-Lam Pham ist Experte für digitale Geschäftsmodelle, E-Commerce und Social Media. Mit seiner Firma Digital IQ berät er DAX-Konzerne und coacht Führungskräfte zu digitalen Trends und Strategien. Als Keynote Speaker spricht er auf internationalen Konferenzen und bloggt und podcastet auf allen Plattformen unter @tulampham. Zuvor war er als Professor, als Startup Gründer sowie in den Bereichen E-Commerce, Media und Venture Capital tätig.

Er liebt alle Arten von Technik-Gadgets und Apps und erkundet auf seinen Reisen ins Silicon Valley und nach China die aktuellsten digitalen Trends. Das Interview mit Tu-Lam Pham wurde per E-Mail geführt.