Das Jahr 2002 markiert den Paradigmenwechsel deutlich: Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht an den israelischen Psychologieprofessor Daniel Kahneman, der das rationale Modell menschlicher Entscheidungen um „kognitive Verzerrungen“ ergänzt. Er hat in der Folge großen Einfluss mit seiner Theorie von den zwei Entscheidungssystemen des Menschen. Der erste Modus ist rational und anstrengend („langsames Denken“), der andere orientiert sich an eingeübten, unbewussten Mustern und läuft weitgehend automatisch („schnelles Denken“). Kahneman öffnet damit die Tore für Intuition, Bauchgefühl – und Unvernunft.
Die Geburtsstunde des Neuromarketings schlägt ein Jahr später, als die Resultate eines bahnbrechenden neurowissenschaftlichen Tests in Houston bekannt werden. Dabei geht es um ein Rätsel, das die amerikanische Marketingwelt schon seit Jahrzehnten beschäftigt: Warum ist Coca-Cola Marktführer bei Softdrinks, obwohl Pepsi bei Geschmackstests immer besser abschneidet? Der Hirnforscher Read Montague führt die Untersuchung mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) durch, die es erst seit einigen Jahren gibt. Sie ermöglicht es, neuronale Vorgänge im Kopf der Proband*innen abzubilden und damit Reaktionen des Gehirns sichtbar zu machen.
Montague veranstaltet zunächst eine Blindverkostung von Coca-Cola und Pepsi. Dabei äußert die Mehrheit der Testpersonen eine Präferenz für Pepsi, das laut Hirn-Scan auch das Belohnungszentrum stärker aktiviert. In einem zweiten Test gibt Montague die Marken vor dem Geschmackstest bekannt. Das erstaunliche Ergebnis: Die Mehrzahl der Proband*innen bevorzugt nun Coca-Cola. Gleichzeitig steigt bei der Marktführer-Marke die Aktivität im Belohnungszentrum. Aber vor allem: Coca-Cola spricht auch einen Bereich im Gehirn an, in dem Beurteilungsprozesse zum Selbstbild des Menschen ablaufen. Die Studie beweist also nicht nur, dass die Marke Coca-Cola positiv auf wahrgenommene Produkteigenschaften abstrahlt („Halo-Effekt“). Sie belegt auch, dass vergangene Erlebnisse mit der Marke offenbar positiv auf das Selbstbild der Konsumentinnen und Konsumenten wirken.
Konsument*innen sagen nicht immer die Wahrheit
Es folgt ein regelrechter Forschungsboom, vor allem in den USA. Dabei wird die fMRT zur Standardmethode. Neuroökonomie nennt man die neue Disziplin, die Neuro- und Wirtschaftswissenschaft verknüpft. Als Bezeichnung für die praktische Anwendung der Erkenntnisse in Marketing und Marktforschung etabliert sich der Begriff Neuromarketing. Damit verbindet sich ein großes Versprechen: Bislang verborgene Wahrnehmungsmuster, Reaktionen und Motivationen im Kopf von Konsumentinnen und Konsumenten sollen sichtbar werden. Und im zweiten Schritt kann man Produkte und Werbung genau darauf abstimmen.
Neuromarketing führt vor allem dazu, dass lineare Überzeugungskonzepte wie AIDA (Attention-Interest-Desire-Action) infrage gestellt werden – Kaufentscheidungen können vielmehr auf Markenpräferenzen beruhen, die vielleicht über Jahrzehnte unbewusst aufgebaut worden sind. Mit dem Neuro-Boom steigt auch das Misstrauen gegenüber klassischen Befragungen: Was Menschen explizit äußern, muss nicht ihren wahren Einstellungen entsprechen.
Auch Deutschland wird schnell zu einem Neuromarketing-Hotspot. Zu den wichtigsten Protagonist*innen gehört der Wirtschaftswissenschaftler Peter Kenning. Er führt bereits 2003 mit einem Team an der Universität Münster die ersten Hirn-Scan-Untersuchungen in der Marketingforschung durch. Dabei zeigt sich unter anderem, dass Lieblingsmarken vor Kaufentscheidungen dafür sorgen, dass die Aktivität in der vorderen Hirnrinde, dem Kortex, verringert wird. Der Kortex ist für das rationale Entscheiden zuständig, er wird von starken Marken sozusagen entlastet. „Hirnforschung: Beim Kaufen setzt der Verstand aus“, titelt die FAZ.
Der Autopilot steuert unsere Entscheidungen
Als erstes Unternehmen gibt DaimlerChrysler Neuromarketing-Studien in Auftrag. Auch Henkel, GlaxoSmithKline und Tchibo beschäftigen sich intensiv mit dem Thema. Unterstützt werden sie von spezialisierten Beratungsunternehmen wie der Gruppe Nymphenburg Consult in München. Sie arbeitet mit der Limbic Map, einer Art Landkarte, die die menschlichen Motive, Werte und Wünsche entlang der Pole Stimulanz, Dominanz und Balance positioniert. Analog lassen sich auf der Limbic Map auch Marken verorten. Die Gruppe Nymphenburg Consult veranstaltet 2008 auch den ersten Neuromarketing Kongress, der seitdem jährlich stattfindet.
Einen Namen als Neuromarketing-Experten machen sich auch Christian Scheier und Dirk Held, die Gründer der Hamburger Marketingberatung Decode. 2006 veröffentlichen sie das Buch „Wie Werbung wirkt – Erkenntnisse des Neuromarketing“. Danach laufen 95 Prozent unserer täglichen Entscheidungsprozesse, vor allem auch Kaufentscheidungen, unbewusst ab. Ein Autopilot greift dazu auf gespeicherte Programme zu, die durch bestimmte Codes aktiviert werden. Diese kann sich das Marketing im Rahmen der „impliziten Codierung“ zunutze machen, um wirkungsvoller zu werben.
Natürlich beißen auch die Werbeagenturen frühzeitig an. Der damalige Marktführer BBDO entwickelt bereits 2004 mit dem Hirnforscher Ernst Pöppel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München einen Forschungsansatz namens „Brain Branding“. Die Nummer zwei, die Agentur Grey, steigt 2005 ein und kooperiert mit Life & Brain, einem Forschungsinstitut der Universitätsklinik Bonn. Das Feld der Forschungsfragen ist breit gefächert: Wie aktiviert man das Belohnungszentrum der Konsument*innen? Wie erinnert man sie an positive Erlebnisse? Wie arbeitet man mit unterschwelligen Assoziationen? „Vieles wird noch in Erfahrung gebracht werden, was uns heute vollkommen unklar ist“, schreibt Grey-Geschäftsführer Uli Veigel 2010 in einem Buchbeitrag. „Doch schon der heutige Wissensstand sollte einige veraltete Überzeugungen für immer verändert haben.“
Neuro-Tests sind leider sehr kostspielig
Sehr bald zeigen sich aber auch die Limitierungen des Neuromarketings. Ein Problem sind vor allem die hohen Kosten: „Schon eine kleine Untersuchung mit sehr enger Fragestellung kostet aufgrund des technischen und personellen Aufwands viel Geld“, diagnostiziert Hans-Georg Häusel, Vorstand der Gruppe Nymphenburg Consult, 2006 in einem Gastbeitrag für die absatzwirtschaft. Bei 20 Versuchspersonen komme man inklusive Vorbereitung und Auswertung auf 30.000 Euro und mehr. „Betrachtet man Investition und Output, spricht das bei 95 Prozent aller heutigen Marketing- und Marktforschungsfragen gegen den Einsatz von Hirnscannern.“
Entsprechende Studien müssen daher mit sehr geringen Fallzahlen auskommen, was die Verlässlichkeit der Ergebnisse einschränkt. Eine Herausforderung stellt auch die Unschärfe der Untersuchungen dar: Man misst Gehirnaktivitäten, weiß aber nicht, was sie genau aussagen. Und letztlich bleibt stets die Frage offen, ob eine im Gehirn gemessene Befindlichkeit eines Probanden oder einer Probandin wirklich zu einem veränderten Kaufverhalten führt.
Vieles wird noch in Erfahrung gebracht werden, was heute vollkommen unklar ist.
Uli Veigel
Grey-Geschäftsführer (im Jahr 2010)
Nach 2010 wird es ruhiger ums Neuromarketing, der erste Hype hat sich abgekühlt. Man erkennt, dass sich neurowissenschaftliche Erkenntnisse nicht unmittelbar in Werbestrategien umsetzen lassen. Die Vorstellung, einen „Kauf-Knopf“ im Gehirn des Menschen zu finden, bleibt Wunschdenken – es ist alles komplexer als erwartet. Trittbrettfahrer*innen, die sich nach der Lektüre von drei Fachbüchern zu Neuro-Expert*innen aufgeschwungen haben, springen wieder ab. Hinzu kommt: Auch wer weiterforscht, hängt es nicht gern an die große Glocke – wer will schon gern als Manipulator*in gelten? „Das sind die fiesen Tricks der Banken“, betitelt die „Bild“ 2012 einen Beitrag über die Anwendung von Neuromarketing-Erkenntnissen in Beratungsgesprächen.
Vor allem aber drängt ein neuer Megatrend das Neuromarketing in den Hintergrund: digitale Performance. Das Instrumentarium der Online-Werbung macht den Erfolg von Kampagnen direkt messbar. Führt etwa eine grüne Anzeigenvariante doppelt so oft zum Kauf wie eine rote, spricht sie die Zielgruppe offenbar besser an – nach dem Warum fragt man dann nicht mehr. Viele Unternehmen verschieben den Schwerpunkt vom Upper zum Lower Funnel, also in Richtung Kaufabschluss. Damit treten die Mechanismen langfristiger Markenpflege in den Hintergrund.
Die Neuroökonomen forschen derweil unbeirrt weiter und stabilisieren das Wissensfundament. Dabei hilft, dass die Messungen über technische Methoden einfacher und vor allem günstiger geworden sind. Im Marketing schwingt das Pendel wieder zurück: Man habe es übertrieben mit der Performance-Orientierung, finden viele – die Klick-Logik stößt an ihre Grenzen. Grundlegende Studien zur Werbewirkung stehen wieder hoch im Kurs. Die Consumer Neuroscience (wie man sie heute nennt) kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Immerhin ist sie noch jung – was sind schon 20 Jahre für eine Wissenschaft?