Von Christoph Seidl
Auf den Dashboards der Streaminganbieter ist die Welt in Ordnung. Trotz Corona. Die Abrufzahlen brechen täglich neue Rekordwerte. Binge Watching ist spätestens seit Beginn der Pandemie in der Gesellschaft angekommen. Geschlossene Bars, abgesagte Konzerte – da bleibt nach einem anstrengenden Arbeitstag oft nur der Serienmarathon, um der Wirklichkeit zu entfliehen.
Doch der Streaming-Boom seit Pandemiebeginn täuscht bei den Giganten Netflix und Amazon Prime Video auch über Probleme hinweg. Mit Disney, Apple oder HBO Max drängen weitere Anbieter in den Markt. Die Lösung von Amazon: Der US-Gigant kauft Champions-League-Rechte und will für 8,45 Milliarden Dollar MGM übernehmen, besser bekannt als das James-Bond-Filmstudio.
Netflix will sich derweil über eine Differenzierungsstrategie im umkämpften Markt behaupten. In einem Brief an die Aktionäre betonte das Unternehmen nach Veröffentlichung der enttäuschenden Quartalszahlen im April 2021, wie wichtig die Eigenproduktionen und exklusiven Inhalte für den Geschäftserfolg seien. Die Coronavirus-Pandemie hat die Produktion lahmgelegt.
Doch sind Eigenproduktionen wie die Serien „Haus des Geldes“, „The Crown“, „The Irishman“ oder „Stranger Things“ die entscheidenden Treiber, damit Netflix die Poleposition am Streamingmarkt halten kann?
Erstes Messmodell für Video-on-Demand-Angebot
Eine Studie legt für diese Forschungsfrage das erste verlässliche und valide Messmodell für ein Video-on-Demand-Angebot vor. Untersucht wird anhand von 42 Indikatoren der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang der Leistungsfaktoren Attraktivität des Produktangebots, Produktinnovationen, Preiszufriedenheit, E-Portal-Qualität, E-Service-Qualität und Markenimage auf die Zufriedenheit und Loyalität der Kund*innen.
Die Ergebnisse können die Hoffnungen der Streaming-Giganten nicht bestätigen. Zwischen den Eigenproduktionen und der Loyalität von Kund*innen besteht weder ein nennenswerter Zusammenhang noch ein Effekt. Bei Netflix haben die Eigenproduktionen zudem keinen nennenswerten Zusammenhang und keinen Effekt hinsichtlich der Kundenzufriedenheit. Bei Amazon bestehen lediglich ein sehr schwacher Zusammenhang und ein sehr kleiner Effekt.
Netflix hat im Vergleich mit Amazon meist die Nase vorn
Der direkte Vergleich beider Unternehmen zeigt: Netflix hat bei der Kund*innenzufriedenheit bei fast allen Leistungsfaktoren die Nase vorne. Amazon schneidet bei den untersuchten Feldern Attraktivität des Produktangebots, Produktinnovationen, E-Portal-Qualität, Markenimage, Kund*innenzufriedenheit und Kund*innenloyalität schwächer ab. Nur bei der Preiszufriedenheit ist Amazon besser.
Den Streaminganbietern bleibt gar nichts anderes übrig, als weitere Milliardenbeträge in den Ausbau der Attraktivität des Produktangebots zu stecken. Sowohl bei Netflix als auch bei Amazon hat dieser Leistungsfaktor aus Sicht der Kund*innen die höchste Relevanz. Sie sind mit dem Film- und Serienangebot leicht unzufrieden. Es besteht akuter Handlungsbedarf.
Gemessen wird die Attraktivität des Produktangebots über mehrere Indikatoren wie Erwartungserfüllung, Sortiment, Verfügbarkeit, persönliche Interessen oder Exklusivität. Netflix muss zwingend an der Verfügbarkeit der von Kund*innen gewünschten Filme und Serien ansetzen. Hier hat das Unternehmen den schwächsten Wert erhalten. Finden Abonnent*innen über die Suche ihre Filme nicht, bekommen sie lediglich Vorschläge ähnlicher Titel. Das Unternehmen muss es schaffen, stärker auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen. Sie müssen vom Angebot auf der Startseite überwältigt sein. Zu einer spezifischen Suchanfrage darf es gar nicht erst kommen. Hier werden Kund*innen immer enttäuscht, wenn ihre gewünschten Filme nicht abrufbar sind.
Netflix muss bei Exklusivität ansetzen
Auch beim Indikator Exklusivität muss Netflix ansetzen. Dabei geht es nicht darum, noch mehr exklusive Inhalte bereitzustellen. Der Streamingdienst muss seinen bestehenden und potenziellen Kund*innen stärker vermitteln, welche Filme und Serien es ausschließlich bei Netflix und bei keinem Konkurrenzanbieter zu sehen gibt.
Bei Amazon zählt das Videoangebot nicht zu den Kernkompetenzen. Es ist nur ein Mosaikstein des Kundenbindungsprogramms Amazon Prime. Dennoch investiert der Versandhändler massiv. Die geplante Übernahme des Film- und Produktionsstudios MGM lässt sich mit einer steigenden Attraktivität des Produktangebots begründen. Für Amazon-Prime-Video-Abonnent*innen hat das Film- und Serienangebot eine noch höhere Relevanz als bei Netflix. Die Kundenzufriedenheit liegt in unserer Untersuchung weit außerhalb des Idealbereichs.
Methodik
Die Forschungsstudie entstand im Rahmen einer Masterarbeit unseres Autors Christoph Seidl, der seit 14 Jahren als Journalist für die Ippen Verlagsgruppe arbeitet. Sie basiert auf der Erfolgskette des Relationship Marketings von Manfred Bruhn. Die Hypothesenprüfung erfolgt anhand der wissenschaftlichen Methode der Strukturgleichungsmodellierung. Für die Auswertung des Ist-Zustands der Unternehmen kommt der Customer Satisfaction Index zum Einsatz, ein international anerkannter Vergleichswert zur Messung der Kund*innenzufriedenheit. An der Umfrage haben deutschlandweit 1815 Abonnent*innen teilgenommen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Januar-Printausgabe der absatzwirtschaft.