Von Frank Puscher
Content Marketing ist en vogue. Unternehmen, die erklärungsbedürftige Produkte haben, haben in diesem Bereich einen leichten Startvorteil. Bei Siemens in München nimmt man die Sache ernst. Mit einem 50-köpfigen Team wird ein Newsroom bestückt, der sich allen Kommunikationsthemen widmet – sei es längerfristig angelegten Kampagnen, klassischer Pressearbeit oder zeitnah zu bearbeitendem Issue-Management.
Jüngstes Thema war die verspätete Auslieferung der ICE 3 an die Bahn aufgrund von Vorbehalten des Eisenbahnbundesamtes. Die Siemens-Redaktion entschied, nicht direkt in die unzähligen Diskussionen in den sozialen Netzwerken einzugreifen, wohl aber positive Facetten am neuen ICE und am Gesamtprojekt darzustellen, um der Öffentlichkeit ein positiveres Bild mitzugeben.
Siemens-Produkte bleiben in den Geschichten außen vor
Tobias Dennehy hat den Aufbau des Newsrooms begleitet und den damit verbundenen Wandel in der Siemens-Kommunikation maßgeblich mitgestaltet. Eine seiner ersten wichtigen Amtshandlungen war das Einrichten einer digitalen Monitorwand im Zentrum des Redaktionsraums. Auf diesem „News Dashboard“ laufen in einem Echtzeit-Ticker Nachrichten aus aller Welt zu Siemens und wichtigen Unternehmensthemen. Aber auch ein Überblick mit den aktuellen Kommunikationsthemen einer Woche, um jedem Mitarbeiter zu zeigen, woran die Kollegen gerade arbeiten und um klare Prioritäten setzen zu können.
Eines von Dennehys Lieblingsprojekten ist /answers, eine langfristig angelegte Kommunikationsplattform, die Erlebnisgeschichten von Menschen in den Mittelpunkt rückt, die von Siemens-Technologie profitieren. Meist unwissentlich: Siemens-Produkte bleiben auf den ersten Blick außen vor. Absatzwirtschaft sprach mit dem Corporate Story Architect.
Herr Dennehy, Sie erzählen in /answers Geschichten über Kunden oder die Kunden Ihrer Kunden. Warum dürfen diese ihre Geschichten nicht selbst erzählen?
TOBIAS DENNEHY: Das dürfen sie, und sie tun es meist auch. Nur nicht uns direkt, sondern renommierten Filmemachern, also erfahrenen Geschichtenfindern und -erzählern. Diese wiederum packen die Geschichten dann in überraschende, ansprechende Gewänder. Denn nicht jeder, der eine Geschichte erlebt, ist auch gleichzeitig ein begnadeter Erzähler. Wenn Sie damit aber auch User Generated Content meinen: Damit haben wir im Rahmen von /answers auch früh experimentiert und schon nach wenigen Monaten den ersten Videowettbewerb gestartet.
Wie sieht denn ein Briefing für eine solche von Nutzern produzierte Geschichte aus?
DENNEHY: Wir haben Themenfelder vorgegeben. Keine unmittelbaren Themen aus dem Siemens-Portfolio, sondern breitere Themengebiete wie Nachhaltige Stadtentwicklung. Zum Beispiel gab es ein Briefing: Was könnte Deine Stadt noch lebenswerter machen? Das haben wir dann schon etwas eingegrenzt: Es sollte weniger um Clubs oder Restaurants gehen, sondern eher um Siemens-nahe Infrastruktur-Themen. Aber nicht um „Siemens-Geschichten“. Das wäre sicher auch mal spannend, aber da müssten wir uns dann noch auf viele Handy- oder Waschmaschinen-Geschichten gefasst machen, wenn wir das nicht eingrenzen.
Hat Ihnen die Qualität der Ergebnisse gefallen?
DENNEHY: Durchaus. Das waren richtig gute Inspirationsquellen. Die zehn besten Videos liefen auf siemens.com und in den anderen Kanälen des Magazins /answers. Wir haben klar kenntlich gemacht, dass es sich um User Generated Content handelt, damit die Erwartungshaltung des Publikums keine falsche ist. Aber ich teile die Auffassung mancher Marketingleiter nicht, die der Meinung sind, dass User Generated Content immer minderwertige Qualität hat. Die Qualität kann durchaus auch dadurch kommen, dass ein bisher unbekannter Filmemacher eine solche Plattform für sich als Chance sieht und inspirierende Inhalte überraschend verpackt. Auch das Preisgeld des Wettbewerbs hat sicher motivierend gewirkt.
Siemens-Produkte sollen in den /answers-Filmen nicht vorkommen, ob „user generated“ oder nicht.
DENNEHY: Stimmt. Das Briefing für die Filmemacher sieht explizit vor, dass Siemens-Produkte keine Erwähnung finden. Sobald man versucht, irgendwo Siemens reinzubringen, schwenkt das zu sehr in Richtung Branded Content. Das war auch eine Erfahrung mit den ersten Autoren, mit denen wir zusammengearbeitet haben, die kamen genau damit zurück: Branded Content. Die haben uns nicht geglaubt, dass wir das wirklich wollten und dann klassisches „Corporate“-Filmmaterial abgeliefert. Ich habe einen der Filmemacher nach Abgabe seines ersten Rohschnitts gefragt, ob er das selbst als unabhängiger Filmemacher genauso machen würde. Er antwortete natürlich: Nein. Ging zurück, produzierte neu, und dann kam ein ganz anderer Film, der tatsächlich das gleiche Thema bedient, nur aus einer anderen Perspektive, überraschender und zurückhaltender.
Was zeichnet eine gute Story aus?
DENNEHY: Es muss einen Spannungsbogen geben, explizit oder implizit. Der Zuschauer muss wissen wollen, wie es weitergeht, wie es ausgeht. Dazu muss es einen Helden geben, und der Held muss ein Mensch sein. „The product is the hero“ ist ein Widerspruch in sich, das Produkt kann kein Held sein. Und es muss sich etwas verändern im Verlauf der Geschichte. Am Schluss muss etwas anderes stehen als zu Beginn. Das kann auch mal negativ sein oder sich mit Negativem befassen – aber das zuzulassen, fällt freilich vielen Unternehmen sehr schwer.
Lässt sich die Qualität einer Story bei den Videoaufrufen auch nachvollziehen? Bleiben die Nutzer bis zum Schluss?
DENNEHY: Das ist interessant. Die Rezeptionsumgebung Web ist per se eine, die Kürze vorschreibt. Beim Kurzfilmfestival funktioniert der 10-Minüter, im Web nicht. In unseren Briefings steht tatsächlich drin, dass die Videos zwischen zweieinhalb und vier Minuten lang sein sollten. Es gibt ein paar Ausreißer und die funktionieren nur dann, wenn eine wirkliche Geschichte erzählt wird, bei der man mitten in der Handlung dabei ist. Porträts, die Storytelling eher retrospektiv und impliziter integrieren, funktionieren über diese Länge nicht. Dann erreichen wir auch das Ziel nicht, dass die Zuschauer das letzte und für Siemens Wichtigste sehen: die Schlusstafel, die die Geschichte zusammenfasst, den Bogen zu Siemens spannt und zur entsprechenden Produktseite weiterleitet.
Stichwort Schluss-Screen: Wie werblich darf der nach einem allgemein gehaltenen Film denn sein?
DENNEHY: Das haben wir einfach knallhart ausprobiert. Wir haben die Schlusstafel direkt mit der jeweiligen Produktseite verlinkt – und siehe da: Elf Prozent der Zuschauer klicken sich im Durchschnitt von der Geschichte, die ganz weit weg beginnt, zur Produktseite durch. Das hat uns selbst überrascht. Inzwischen haben wir den Ansatz so weit optimiert, dass wir den Traffic auf die Produktseiten teilweise verdreifachen, wenn ein neues Video erscheint – mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 20 Minuten. Und wir sehen außerdem, dass die Zuschauer, die vom Video kommen, eine um zehn Prozent höhere „Engagement-Rate“ haben, als wenn sie von Suchmaschinen-Kampagnen kommen. Mit „Engagement“ meinen wir: Sie haben beispielsweise ein Kontaktformular ausgefüllt oder ein Whitepaper herunter geladen.
Gibt es Werbung für die Videos?
DENNEHY: Ja, wir bewerben die Story, nicht die Produkte. Wir wollen ja unseren Produktkampagnen nicht die Keywords streitig machen. Es gibt Anzeigen auf Youtube, Facebook und Google. Youtube-PreRolls machen wir nur bei klassischen Werbeclips unserer Unternehmenskampagne, bei den Videos von /answers dürfen wir das aufgrund der Vereinbarungen mit den Autoren aus rechtlichen Gründen gar nicht.
Das Format /answers gibt es seit 2011. Was hat sich verändert?
DENNEHY: Wir haben viel darüber gelernt, wie wir Geschichten angehen. Da holen wir Stück für Stück auch immer mehr Kompetenz in unseren Newsroom, weil wir von anderen lernen. Wir haben sogar begonnen, eine interne Truppe von Videoreportern auszubilden. Nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch in Sachen Storytelling. Nächste Stufen für /answers könnten sein, dass wir die Helden aus den Geschichten stärker in klassische Kampagnen einbinden oder uns auch noch näher an unsere tatsächlichen Kunden als Helden heranwagen.
Wie gestaltet sich der Arbeitsalltag im Newsroom? Steigt der Druck nicht enorm im transparenten Großraumbüro?
DENNEHY: Der Druck steigt nicht unbedingt, aber die Denke verändert sich – positiv. Man ist eben nicht allein, das heißt, man muss bei der eigenen Arbeit Rücksicht auf andere nehmen, kann aber auch stets die Kollegen fragen, ob sie einmal über einen Text drüber schauen, oder man bekommt in unserer täglichen Redaktionssitzung vieles mit, das Doppelarbeit verhindert und die Unternehmenskommunikation integrierter und kongruenter macht. In Sachen Verantwortlichkeiten hat sich gar nicht so viel verändert. Es gibt nach wie vor klassische Medienverantwortliche oder Zielgruppen-Experten, aber eben auch neue Positionen wie die des CvD, der bei uns das Tun aller zielgerichtet koordiniert. Die Vorteile des Newsrooms überwiegen bei weitem.
Das Gespräch führte Frank Puscher.