Wellblechlager, geziert von Graffiti, wild parkende Autos vor Rohrleitungen, verrostete Schienen, drei knallgelbe Boxautomaten – Reste eines Vergnügungsviertels. Mittendrin ein lang gezogener Fabrikbau, die eine Seite gelb, die andere orange. Das ist Werk1, Münchens coolster Inkubator. Früher wurden in der großen Halle Pfanni-Knödel hergestellt. Heute belegen 37 Start-ups die loftartigen Räume, zudem gibt es einen Coworking-Space sowie ein Café mit abgewetzten Ledersofas. So weit das Geschehen im vorderen Teil. Im hinteren Teil des Gebäudes residiert eine Tabledance-Bar im Retro-Look; Slogan: „Möge die Nacht mit dir sein“. Woanders wäre das Kult. Und in München?
Patrick Esslinger ist von der Wahnsinns-Szenerie nicht sonderlich beeindruckt. „So ein Industriestil ist mal was anderes“, sagt er unterkühlt. Der 27-Jährige, Kopfhörer um den Hals, kurze Hosen und grüne Turnschuhe, hat vor eineinhalb Jahren im Werk1 den ersten Pitch von Kollegen bestaunt. Inzwischen hat er selbst ein Unternehmen, Nanoku, das mithilfe intelligenter Software Warteschlangen vor Großveranstaltungen und in Behörden verhindern will.
Riesiger Sprung nach vorne
Unaufgeregt, solide, fundiert – solche Vokabeln fallen oft, wenn man mit Insidern über den Start-up-Hub München philosophiert. Wahr ist, dass die bayerische Landeshauptstadt in den vergangenen Jahren einen riesigen Sprung nach vorn gemacht hat, was Gründergeist und Dynamik angeht, unterstützt von Großunternehmen, Hochschulen, dem Freistaat und potenten lokalen Investoren. Selbstbewusst wie stets sieht sich München bereits in der Führungsrolle, fast jedenfalls – nur die Bundeshauptstadt gilt noch als stärker. Manche wollen nicht einmal das zugeben.
„Ich sehe uns mit Berlin gleichauf“, sagt Carsten Rudolph, Geschäftsführer von Baystart-up, der zentralen Anlaufstelle für Münchens Gründer. Die Wahrnehmung sei durch die Start-up-Fabrik Rocket Internet verzerrt, aus der Schwergewichte wie Zalando und Westwing hervorgegangen sind – mit einer echten Gründerszene habe das wenig zu tun. Da mag Zweckoptimismus mitklingen, aber auch der nüchterne Gründer Esslinger konzediert: „Als ich vor ein paar Jahren begann, über ein Start-up nachzudenken, gab’s in München keine große Szene. Jetzt hat sie richtig Fahrt aufgenommen.“
Auch weil der Freistaat kräftig fördert. Allein 116 Millionen Euro fließen gegenwärtig in den Aufbau des neuen Zentrums Digitalisierung Bayern, das – so das Wirtschaftsministerium – „dem Gründerland Bayern ordentlich Schub verleihen“ soll: Bis 2020 hofft man auf 1 000 IT-Neugründungen. Es gibt Programme wie „Start? Zuschuss!“ für digitale Start-ups und mit der Landestochter Bayern Kapital einen Investor, der ausschließlich in bayerische Gründer investiert. Auch Baystart-up, das neben einem Businessplan-Wettbewerb jährlich rund 100 Workshops veranstaltet und zu dessen Netzwerk 230 Business-Angels gehören, wird teilweise vom Wirtschaftsministerium finanziert.
Längst hat die Szene Eigendynamik entwickelt. Jeder Neuzugang steigert die Attraktivität des Standorts. Im April eröffnete Google ein Entwicklungszentrum mit 400 Mitarbeitern und eigenem Feierabendbier, genannt Gbräu. IBM er-kor München zur weltweiten Zentrale für den Supercomputer Watson und das Internet der Dinge, Huawei betreibt hier sein erstes europäisches Openlab, Intel ein „IoT Ignition Lab“. Nicht zu vergessen die Platzhirsche: Allein sieben Dax-Konzerne, darunter BMW, Allianz und Munich Re., fördern Start-ups mit eigenen Programmen. Rudolph spricht schon von einer „Accelerator-Schwemme“. Siemens gründet im Oktober Next47, ein Labor für disruptive Ideen, das weltweit operieren und auch Externen offenstehen soll, mit Büros in Berkeley, Schanghai und München. Die Mediengruppe Pro Sieben Sat1 aus Unterföhring hat ihr Fernsehgeschäft um Beteiligungstöchter wie 7Ventures und 7Commerce erweitert, die gezielt in digitale Neulinge investieren – etwa in die Münchner Modeplattform Stylight.
Die Dominanz der Konzerne prägt die Art der Start-ups: Mehr als 60 Prozent konzentrieren sich auf B-2-B. Das ist weniger als in Stuttgart, aber deutlich mehr als in Berlin. Captchaad gehört zu ihnen, ein Marketing-Start-up des Kölners Jan Philipp Hinrichs, der die kleine Firma 2011 nach München transferierte, weil er dort einen MBA-Studiengang für Gründer absolvierte. Captchaad experimentiert mit interaktiven Onlineformaten, bei denen Nutzer kurze Fragen beantworten. Je nach Antwort wird zielgenaue Werbung eingeblendet. Hinrichs’ Kunden sitzen in ganz Deutschland, doch der 36-Jährige will schon deshalb in München bleiben, weil er glaubt, hier leichter gute Mitarbeiter zu finden. Die Berge, die Seen, Biergärten und Weißwürste – „das Münchner Flair ist ein klarer Vorteil“.