Die Neonschrift an der Wand leuchtet grell und türkis: „Someone is getting rich“. Ein junger Mann mit Vollbart versucht, seine Geschäftsidee zu beschreiben. In 60 Sekunden. Wearables für Epilepsiepatienten. „Und jetzt der Nächste. Kommt schon, das ist eure Chance, euch kostenlos vorzustellen“, schreit der Moderator. Rund 150 Leute haben sich an diesem Sommerabend zum monatlichen „Gründergrillen“ eingefunden. Der Ort: die Räume eines Akzelerators. 90 Prozent Männer, viele Jeans, wenige Jacketts; der Einzige mit Krawatte ist der Barmann. Auf der weitläufigen Terrasse gibt es gegrillte Würstchen, würzige dünne und milde dicke. Es ist wie bei zahllosen anderen Gründertreffen in Deutschland. Nur dass dieses Treffen in Stuttgart stattfindet.
Start-ups in Stuttgart?
Viele wissen nicht einmal, dass es dort so eine Szene überhaupt gibt. Die Region mag für Tüftler und Erfinder stehen, aber auf schwäbische Art: in der geordneten Welt des industriellen Mittelstands oder der ganz Großen, Daimler, Porsche und Bosch. „Denen müssen Sie erst mal beweisen, dass ein Geschäftsmodell funktioniert“, sagt Sven Dumke, der eine Bachelorarbeit über die Stuttgarter Gründerszene schrieb und heute als Berater arbeitet. Im „Start-up Monitor“ des Bundesverbands Deutsche Startups (BVDS) waren Stuttgart und Karlsruhe 2013 und 2014 nicht einmal erwähnt. Gemessen daran, hat die Szene überraschend viel zu bieten. Co-Founder Speed Dating, Hackathons, Start-up- Weekends. Coworking Spaces und Inkubatoren wie Accelerate Stuttgart, in den kürzlich die Münchner Firmenschmiede Etventure einstieg. Auf dem Campus der Universität Stuttgart entsteht die Arena 2036, eine Forschungsfabrik inklusive Start-up-Autobahn mit Beteiligung von Daimler (siehe Interview). Bosch betreibt seit 2014 ein Start-up-Labor in Ludwigsburg. Gleich nebenan gründete Porsche im Mai eine Digital-Tochter „als Schnittstelle zwischen Porsche und Innovatoren weltweit“.
Es sind Anfänge, immer noch. Doch es scheint, als sei die Region aufgewacht. Selbst die Politik scheint allmählich zu verstehen, dass die traditionellen Stärken des Südwestens nicht mehr reichen. Grüne und CDU unterzeichneten ihren Koalitionsvertrag am 9. Mai symbolträchtig auf dem Stuttgarter Startup Campus, einer privaten Initiative, die im Gebäude eines ehemaligen Garnisonslazaretts residiert. Die Koalitionäre feierten ihr Ziel, „Baden-Württemberg zum dynamischsten Gründerland in Europa zu machen“, und versprachen ein Gründungsnetzwerk und einen Innovationsfonds.
Es war der erste Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg mit dem Wort Start-up. Die Szene hatte trotzdem auf mehr gehofft, etwa auf ein Digitalministerium. „Diese Maßnahmen sind eher Lada als Porsche“, giftete BVDS-Vorsitzender Florian Nöll in einer Onlinekolumne. „Klingt nicht so, als ob in Berlin oder London jemand die neue Konkurrenz aus dem Süden fürchten müsste.“
Gründergrillen als Institution
Wenn es etwas gibt, woran sich der Fortschritt der Szene messen lässt, ist es das Gründergrillen. Der Event begann 2011 mit einer Handvoll Leute im Schlosspark. „Wir haben Pionierarbeit geleistet. Drei Jahre war es extrem hart“, sagt Johannes Ellenberg, inzwischen Geschäftsführer von Accelerate Stuttgart. Heute ist das Grillen eine Institution und wird vom Verein Startup Stuttgart organisiert, seit 2014 Schalt- und Koordinierungsstelle für alles, was in der Region zum Thema Gründung läuft. Treffpunkt ist meist die „Schankstelle“, eine zur Kneipe umgebaute Tankstelle direkt gegenüber der IHK, worin ein gewisser provokativer Reiz liegt, denn von den etablierten Institutionen fühlten sich die Stuttgarter Techies lange schlecht vertreten.
Adrian Thoma gehört zu ihnen. Nackenlange Haare, Kinnbärtchen, eine leise, schnelle Stimme. Früher wollte er Rockstar werden, jetzt konzertiert der 33-Jährige die Gründerszene: Regionalsprecher des BVDS, Vorstandsmitglied des Vereins Startup Stuttgart, Mitgründer des Startup Campus. Beim Gründergrillen kann er kaum zwei Meter laufen, ohne dass ihm jemand auf die Schulter klopft.
„Ursuppe“ nennt Thoma die diffuse Mischung aus Tüftlern, Studenten, Partygängern und mondsüchtigen Kreativen; diese Kultur, in der wie selbstverständlich Ideen geboren und wieder verworfen werden. Daran mangelte es bisher in Stuttgart, auch weil es für Absolventen der Hochschulen so viel einfacher ist, gut bezahlte Jobs bei Daimler, Bosch, Porsche und Mahle anzunehmen. „Die Studenten werden schon in der Uni von den großen Unternehmen belagert“, sagt Michael Aechtler, Vorstandsvorsitzender des Vereins Startup Stuttgart. Wer gründete, war Außenseiter.
Feliks Eyser wagte es trotzdem. Der gebürtige Stuttgarter gründete 2010, kurz nach seinem Wirtschaftsinformatikstudium, die Regiohelden – ein Unternehmen, das für Mittelständler und Freiberufler Internetwerbung optimiert. „Die Szene war damals sehr überschaubar. Außer uns und Edelight gab es im Grunde keine Start-ups.“ Edelight, das war die Firma, bei der Eyser in den ersten Monaten unterkroch, „in einer Art Abstellkammer“. Auch regionale Investoren suchte Eyser vergebens.
Trotzdem ist daraus ein dynamisches Unternehmen geworden mit über 10 000 Kunden, 250 Mitarbeitern und neun Standorten; der Kölner Außenwerber Ströer übernahm im vergangenen Jahr einen 90-prozentigen Anteil. Hauptsitz der Regiohelden jedoch ist Stuttgart geblieben. „Ich bin ganz happy hier“, sagt der 28-Jährige lapidar. Er mischt in der Start-up-Szene mit, beteiligt sich als Business Angel bei Reparando und Mädchenflohmarkt, spricht auf Konferenzen, lässt sich beim Gründergrillen sehen. Und stellt immer wieder fest: „Es gibt hier clevere Leute, aber sie sind zu risikoavers.“
Die Hochschulen sind daran nicht ganz unschuldig. Sie fördern die Gründerdynamik weit weniger als etwa die Münchner Universitäten – wohl auch, weil Mäzene wie Susanne Klatten fehlen, die BMW-Großaktionärin, die dort großzügig Entrepreneurship-Initiativen unterstützt. Immerhin: Die Universität Hohenheim rollt ein 2015 gestartetes Pilotprojekt, die Startup Garage, nun hochschulweit aus – „Hohenheim macht“ nennt sich das Programm. Dafür gibt es jetzt Fördermittel vom Land, ebenso wie für das Projekt „Spinnovation“, an dem unter anderem die Hochschule der Medien beteiligt ist.
Die hat in einem Ladenlokal im Hochschulviertel ein Start-up-Center eingerichtet, die Schaufenster vollgestellt mit Werbepappen: „We power your idea“. Ulf Kühnapfel gehört zu den Gründern, die sich dort eingemietet haben. Vor drei Jahren arbeitete der schlacksige 31-Jährige noch bei Mercedes-Benz als Designer, hatte aber schon eine Idee im Kopf. Genervt davon, dass er bei seinem Internetprovider immer in der Warteschleife landete, suchte er nach einer Softwarelösung, um den Service zu verbessern. Als er sie hatte und Mitstreiter dazu, kündigte er von einem Tag auf den anderen. „Ich hatte einen geilen Job und ein geiles Gehalt und eine 35-Stunden-Woche, aber ich wusste, dass ich mich mein Leben lang ärgern würde, wenn ich nicht versuchen würde, mein eigenes Ding zu machen.“ Virtual Q heißt sein Unternehmen heute, hat neun Mitarbeiter, namhafte Kunden und mehrere Gründerpreise abgeräumt, darunter den Quantensprung-Award von der Verlagsgruppe Handelsblatt und der Postbank. Kühnapfel will in Stuttgart bleiben: „Unser Geschäft ist B2B, dafür ist die Region ein guter Standort.“
80 Prozent sind B-to-B-Kunden
Die Industrie bleibt das Fundament des Ländle. Laut „Start-up Monitor“ haben Gründer aus der Region Stuttgart/Karlsruhe zu 80 Prozent B-to-B-Kunden, mehr als irgendwo sonst. Und das, obwohl sich der schwäbische Mittelstand dem digitalen Zeitalter nicht eben mit Begeisterung nähert. „Die Großen haben verstanden, wie schnell sich ihre Geschäftsmodelle ändern. Für den Mittelstand gilt das nicht unbedingt“, sagt Aechtler. Gemeinsam mit der IHK versucht er neuerdings, disruptive Gründer mit alteingesessenen Unternehmern zusammenzubringen.
Adrian Thoma quält sich mit seinem weißen Quattro durch den Freitagnachmittagsverkehr. Sein Ziel: die Robert Bosch Startup GmbH in Ludwigsburg, eine halbe Stunde nördlich von Stuttgart. Sie sitzt in einer umgebauten Industriehalle nahe der Autobahn. Dort wartet schon Peter Guse, ein hochgewachsener freundlicher Ingenieur. Jahrelang hat er in der Forschungsabteilung von Bosch erlebt, wie Ideen aufkamen und sie untereinander sagten: Das müsste Bosch machen. Aber Bosch machte es nicht. Weil die Ideen nicht ins Raster passten. Guse und seine Kollegen gingen der Unternehmensführung so lange auf die Nerven, bis die Startup GmbH beschlossen wurde.
Jetzt ist Guse hier Geschäftsführer und stolz auf die Freiheit und den kleinen Dienstweg. „Unsere Ingenieure können ihre Ideen sofort ausprobieren“, sagt er – etwa in der „Garage“, einem Bastelraum mit 3-D-Druckern, Kantbank, Bohrmaschinen und Lötkolben. 30 eigene Mitarbeiter beschäftigt der konzerneigene Inkubator in Ludwigsburg, darüber hinaus können Externe und Bosch-Teams Räume mieten. Jede Idee passt erst mal, vorausgesetzt, sie ist skalierbar. So wie der App-kontrollierte Temperatursensor, den ein Team in diesem Jahr an Spargelbauern vermarktet – und künftig auch an andere Landwirte.
Auch wenn der Bosch-Inkubator ein eigener Kosmos ist – zur Start-up-Szene draußen gibt es Verbindungen. Guse holt Protagonisten wie Thoma als Coaches und hilft schon mal bei der Finanzierung von Projekten. „Es ist ein Geben und ein Nehmen“, sagt er. In einer Region, die so stark von den Großen geprägt ist, geht selbst bei der Start-up-Förderung wenig ohne sie.
Auch im Stuttgarter Süden helfen sich etablierte Unternehmen und Start-ups. Ulrich Dietz, CEO der GFT Technologies AG, fördert seit Jahren die Innovationskultur in der Region, seit 2014 auch mit einem eigenen Akzelerator: „Code_n Spaces“. Im ersten Stock die Gründer, im zweiten Stock eine „Executive Area“ für externe Manager. Die Räume hat ein Künstler im Edeldesign gestaltet; selbst das, was abgerissen aussieht, ist wohlüberlegt. Hier wird längst nicht mehr nur die kreative „Ursuppe“ gerührt, die sich Adrian Thoma wünscht.
Trotz aller Fortschritte wird es dauern, bis der Rest der Republik zur Kenntnis nimmt, dass Schwaben und Badener auch Start-ups können. Das weiß auch Thoma. Vor einem Jahr organisierte der BVDS eine Bustour ins Rheinland. Sie wurden dort bestaunt wie Exoten. „Wenn Sie in Köln einen Gründer nach den Start-up-Standorten Stuttgart oder Karlsruhe fragen, dann schaut der Sie nur an und sagt: „Upps?“ zitierte die „Stuttgarter Zeitung“ einen Szenekenner. Aber Schwaben sind zäh. Diesen Herbst organisiert Thoma wieder eine Bustour. Es geht nach Berlin. Mutig, oder? Thoma findet das nicht. „Klar ist Berlin heute die Start-up-Hauptstadt“, sagt er. „Aber unsere Symbiose von Corporates und Start-ups gibt es da nicht. Wenn wir diesen Vorteil nutzen, kann richtig was durch die Decke gehen.