Sie scheinen auch nicht nur in den einzelnen Köpfen von speziellen Individuen zu bestehen. Im Kern werden diese Stadtbilder von der internationalen Gemeinschaft geteilt: New York, die Stadt der modernen Kunst; Paris, die Stadt der Mode; Berlin, die immer werdende Stadt; Köln, die Stadt des Frohsinns; Zürich, die Stadt der verlässlichen Privatbanken; Wien, die Stadt der klassischen Musik.
Die doch sehr deutliche Bestimmtheit und die durchaus internationale Verbreitung dieser Stadtbilder legt es nahe, von erfolgreichen Städten als globale Marken zu sprechen. Aber macht dies letztendlich Sinn? Natürlich spricht vieles für die Übertragung des Markenkonzepts auf Städte.
Wie Produkte, Services und Unternehmen stehen, erstens, auch Städte mehr und mehr im (internationalen) Wettbewerb. Zweitens müssen auch Städte, wie erstere, ein klares Profil erzeugen und überzeugend kommunizieren, um in diesem Wettbewerb erfolgreich bestehen zu können. Und wie nachhaltig erfolgreiche, kommerzielle Angebote müssen auch Städte, drittens, dafür sorgen, dass die Erlebnisse ihrer Kunden mit ihnen dem versprochenen Bild in der Realität grundlegend entsprechen.
Gerade bei diesem dritten Punkt kommen sicher erste Zweifel auf. „Ist“ Wien tatsächlich die Stadt der klassischen Musik oder bilden wir uns das nicht nur ein? Oder in anderen Worten: wie „real“ sind denn unsere vielfach geteilten Stadtbilder? In zwei Schritten können wir uns dieser Frage nähern.
Für den Alltagsgebrauch ist die Antwort zunächst wohl schnell gegeben. Unsere Stadtbilder sind fiktiv. Als solche halten sie kaum einer ernsten Überprüfung in der Wirklichkeit statt. Um beim Stadtbild Wien zu bleiben: klassische Musik findet auch (und besser?) woanders statt. Und in Wien findet auch Anderes (und weniger Attraktives?) statt. Unsere Stadtbilder sind also eingebildet.
Sie sind Konstrukte von interessierten Stadtpolitikern und -planern, kritischen Querdenkern und Quälgeistern, professionellen Vermarktern und wortgewandten Reisejournalisten. Die entscheidende Frage an den Alltagsverstand bleibt dann: warum lassen wir uns – als Bürger, Tourist, Investor, Journalist – dann doch immer wieder von solch reichlich konstruierten Stadtbildern verführen?
Die Antwort hierauf liefert die innovative Geschichtswissenschaft. Sie zeigt inzwischen in zahlreichen Studien, wie nachträglich weitverbreitete Vorstellungen von Städten (Stadtbilder) in der Geschichte eben immer wieder vorgängig konstruiert und als solche dann aber wirkungsmächtig geworden sind. Mit Hilfe des Konzepts der „eingebildeten Gemeinschaften“ wird anhand theoretischer Überlegungen und empirischer Untersuchungen verständlich, dass und wie die „Wirklichkeit der Fiktion“(Philipp Sarasin, Historiker in Zürich) entsteht.
Anschaulich berichtet beispielsweise die Historikerin Martina Nussbaumer, wie seit dem Wiener Baedeker von 1868 bis heute das Image Wiens als der „Welthauptstadt der Musik“ immer wieder zur nach innen und aussen identitätsstiftenden „unique selling proposition“ für Wien eingesetzt wurde und wird.
Historisch lassen sich vielfältige weitere Beispielen anführen, wie sich Städte immer wieder positionieren, wie diese Positionierungen sich in sehr komplexen öffentlichen Auseinandersetzungen („Diskursen“) herausbilden, wie sie sich über verschiedene Erlebnisse (beispielsweise Ausstellungen, Veranstaltungen, Gebäude) der Welt gegenüber manisfestieren, und wie sie schliesslich von dieser Welt (Reiseliteratur, Reiseführern) als „Wirklichkeit“ aufgefasst und damit wiederum verfestigt werden.
So entsteht historisch die kollektive Identität von Städten als konstruierte Wirklichkeit. So werden Städte zu Marken. Komplexe wissenschaftliche Vermutungen existieren auch dazu, welche abstrakten Erfolgsfaktoren in der Herausbildung der jeweiligen Stadtmarken jeweils bedeutsam waren. Recht wenig weiss man dagegen auch nach all den Studien darüber, wie unter heutigen Bedingungen und von wem erfolgreich Stadtbilder konstruiert werden können.
Dem Wirbel rund um das Thema zum Trotz: Städte zu Marken zu machen erscheint aktuell, so gesehen, abschliessend eher als erwünschte Fiktion denn als geschaffene Wirklichkeit.
Über den Autor: Prof. Dr. Jürgen Häusler ist CEO von Interbrand Central and Eastern Europe.