So behaupten sich Marken in Zeiten großer Verunsicherung 

Bei vielen Firmen und Verbrauchern herrscht angesichts der Krisen um sie herum Verunsicherung. Unser Gastautor nennt es die “PUMO-Welt” – Polarized, Unthinkable, Metamorphic, Overheated. Dadurch ergeben sich gerade für das Marketing große Herausforderungen, aber auch Chancen.
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Ulrich Lichtenthaler ist Professor für Management und Entrepreneurship an der International School of Management (ISM) in Köln. Neben mehreren Büchern hat der Experte für Strategie, Innovation, Nachhaltigkeit und KI verschiedene Management-Tools entwickelt, darunter die “Sustainability Innovation Map” und das “PUMO-Framework”.  (© privat; Montage: Katharina Höhner)

Die aktuellen politischen Entwicklungen in den USA und Europa sind nur ein weiteres Indiz dafür, wie schwer es für Firmen gerade ist, einmal eingeschlagene Strategien beizubehalten. Zölle in welcher Höhe auf welche Produkte? Welche regulatorischen Anforderungen gelten beim Thema Nachhaltigkeit, für welche Unternehmen und ab welchem Zeitpunkt? Selbst verschiedene Extremszenarien für die mittelfristige Marktentwicklung haben zahlreiche Ereignisse der letzten Monate nicht berücksichtigt. Dadurch hat sich in vielen Firmen ebenso wie bei ihren Kundinnen und Kunden Verunsicherung breitgemacht. 

Marketingverantwortliche überdenken daher die Positionierung ihrer Firmen in nationalen und internationalen Märkten ebenso wie die kurz- bis mittelfristige Marktentwicklung. Vielfach scheitert ein systematisches Vorgehen jedoch bereits daran, dass die aktuelle Stimmung in den Firmen und bei den Konsumenten kaum in geeigneter Weise erfasst oder beschrieben werden kann. Man kann sich oft auf ein Gefühl der Verunsicherung einigen, aber wodurch dieses entsteht und wo angesetzt werden kann, führt oft zu langen Diskussionen. 

Von VUCA und BANI zu PUMO 

In der Vergangenheit haben Bezugsrahmen zur Beschreibung der Umwelt eine gute Orientierung geboten, zum Beispiel VUCA (Volatile, Uncertain, Complex, Ambiguous) und BANI (Brittle, Anxious, Nonlinear, Incomprehensible). Diese Ansätze wurden oft als hilfreich empfunden, ihr Mehrwert nimmt in der aktuellen Situation allerdings stark ab. Vielfach wird zum Beispiel die VUCA-Welt ohnehin als Dauerzustand angesehen.  

Hier kommt PUMO (Polarized, Unthinkable, Metamorphic, Overheated) ins Spiel – ein Ansatz, der die aktuellen Entwicklungen dadurch besser erfasst, dass das Umfeld als polarisiert, undenkbar, metamorph und überhitzt verstanden wird. 

Der Ansatz soll Unternehmen dabei helfen, die extremen Störungen zu bewältigen, die sich aufgrund des unsicheren Umfelds laufend neu ergeben. Dabei wird die besondere Art der aktuellen Herausforderungen betont, die oft eine sehr strategische und proaktive Vorgehensweise erfordern. Firmen insgesamt und vor allem auch das Marketing bewegen sich nicht nur in einem unvorhersehbaren Umfeld, sondern sie müssen auch tiefe gesellschaftliche Gräben berücksichtigen und sich auf Situationen mit immensem Druck vorbereiten. Dabei hat jede PUMO-Dimension spezifische Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Marken kommunizieren, sich positionieren und mit Stakeholdern interagieren. 

Hier kommt PUMO (Polarized, Unthinkable, Metamorphic, Overheated) ins Spiel – ein Ansatz, der die aktuellen Entwicklungen der Verunsicherung besser erfasst.
(© Ulrich Lichtenthaler)

Polarized 

In einer polarisierten Gesellschaft gibt es oft eine Lagerbildung bei wichtigen politischen, sozialen und ökologischen Themen. Dadurch spalten sich Märkte, in denen Firmen entsprechend navigieren müssen. Marken müssen sorgfältig abwägen, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, sich neutral zu verhalten oder wie man Stellung beziehen möchte, wohl wissend, dass mit jeder Entscheidung Risiken verbunden sind. Eine authentische Positionierung kann Marken und Umsätze stärken, zum Beispiel das Engagement von Patagonia für Nachhaltigkeit, allerdings können sich auch Abneigungen gegen Marken entwickeln. Dies gilt gerade in verschiedenen regionalen Märkten weltweit, wobei eine stärkere lokale Anpassung von Kampagnen zu kontinuierlichem Markterfolg beitragen kann. 

Unthinkable 

Mit unvorhersehbaren und überraschenden Ereignissen müssen Unternehmen schon seit langem klarkommen. Der PUMO-Ansatz verdeutlicht jedoch, dass selbst Ereignisse, die von einer großen Mehrheit eigentlich als undenkbar angesehen werden, in erstaunlicher Häufigkeit eintreten. Damit ist das Undenkbare Teil der neuen Normalität, von plötzlich veränderten globalen Allianzen auf politischer Weltbühne bis zu sprunghaften Verbesserungen bei Künstlicher Intelligenz wie durch ChatGPT. Selbst szenariobasierte Marketingplanung stößt an ihre Grenzen und unterschiedliche Krisenstrategien sind Pflichtaufgabe. Außerdem können zum Beispiel Echtzeit-Monitoring-Tools helfen, agil und resilient, aber gleichzeitig konsistent auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. 

Metamorphic 

Ein turbulentes Umfeld ist schon lange üblich, jedoch gab es oft Fixpunkte. Allerdings geraten auch diese ins Wanken, da sich Konsumentenerwartungen und Branchen regelmäßig komplett verändern. Automarken wie Mercedes müssen nicht nur den Wandel zur Elektromobilität gestalten, sondern auch eine längere Relevanz von Verbrennungsmotoren in einigen Regionen berücksichtigen – bei gleichzeitig beschleunigter Transformation anderswo. Dazu kommen bei Mercedes Herausforderungen durch die Luxusstrategie sowie schneller als erwartet massive Konkurrenz durch chinesische Marken, während andere Konkurrenten wie Tesla selbst Probleme haben. Auf Basis einer klaren Markenidentität und Vision müssen sich Firmen diesem steten Wandel stellen und dabei regelmäßig angebliche Fixpunkte in Frage stellen. 

Overheated 

Echte oder gespielte Aufgeregtheit prägt mittlerweile viele öffentliche Debatten. In solch einer überhitzten Welt stehen Unternehmen unter ständiger Beobachtung. Intensiver Wettbewerb und kontinuierlich neue Markterwartungen führen zu großem kurzfristigem Druck. Jede Kampagne kann zu Kontroversen und möglichen “Shitstorms” führen. Um sich dennoch langfristig erfolgreich weiterzuentwickeln, sollte einerseits beständig kommuniziert werden, andererseits sollte mit möglichst krisensicheren Marketingstrategien jederzeit auf aktuelle Entwicklungen reagiert werden. Eine solche Balance ist entscheidend, um kurzfristig mögliche virale Erfolge zu schaffen und langfristig Desinteresse der Zielgruppen zu vermeiden. 

Von PUMO zur erfolgreichen Strategie 

Die PUMO-Welt stellt eine neue Realität dar, die nicht ignoriert werden kann. Das gilt gerade für Marketingverantwortliche, die ihre Firmen und Produkte regelmäßig neu und möglichst effektiv positionieren sollten. Unternehmen müssen in der Lage sein, in einem polarisierten Umfeld zu bestehen, unvorhersehbare Ereignisse zu antizipieren, kontinuierliche Veränderungen anzunehmen und in überhitzten Situationen zu bestehen.  

Marketingverantwortliche sollten die Bedeutung vorausschauenden strategischen Handelns erkennen, gerade weil im aktuellen Umfeld klassische Planungsansätze nicht mehr funktionieren. Ereignisse werden immer wieder nicht nur als unvorhersehbar, sondern als undenkbar angesehen – bis sie dann plötzlich eintreten.  

Paradoxerweise erfordert gerade diese extreme Umgebung eine regelmäßige Rückbesinnung auf die Grundlagen der Unternehmensstrategie. Dann können Firmen auch die sich ergebenden Chancen durch Innovation und Transformation nutzen und sich in Zeiten extremen Wandels als resiliente und zukunftsfähige Marktführer erfolgreich aufstellen.