Die Stadt München hat an diesem sonnigen Frühsommertag gekniffen, aber die Münchner sind standhaft geblieben und haben buchstäblich Flagge gezeigt. Es ist der 23. Juni 2021. Die bayerische Landeshauptstadt wollte die Allianz Arena für das entscheidende Gruppenspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft der Herren bei der Europameisterschaft gegen Ungarn in Regenbogenfarben leuchten lassen, um damit ein Zeichen gegen ein umstrittenes Homosexuellen-Gesetz in Ungarn zu setzen. Doch 48 Stunden vor dem Anpfiff hatten die Verbände UEFA und das EM-Organisationskomitee die Aktion untersagt.
Was sie von dieser (Nicht-)Haltung der Fußballfunktionäre hielten, brachten viele Münchner Institutionen, Unternehmen und Menschen am Spieltag zum Ausdruck: Die Stadt leuchtete an vielen Stellen in Rot-Orange-Gelb-Grün-Blau-Lila: Theater, Kirchen, Hotels und Einzelhändler hissten die bunte Fahne der LGBTQI+-Community, selbst die Münchner Verkehrsgesellschaft hatte ihre Busse mit kleinen Fähnchen geschmückt. In den für München typischen Zeitungsboxen am Straßenrand zeigen die Titelseiten, klar, die Regenbogenfahne. Ein klassisches Eigentor für die Fußballoffiziellen.
Regenbogenflagge als Symbol der queeren Community
Die Regenbogenfahne polarisiert, obwohl sie ein positives Symbol der queeren Community für Toleranz und Vielfalt sein soll. Also solches wurde sie 1978 in San Francisco entworfen. Die Community feiert jährlich im Juni ihre Emanzipation im Gedenken an die Stonewall-Unruhen in der New Yorker Christopher Street, die am 28. Juni 1969 infolge von massiver Polizeigewalt gegen Homosexuelle ausbrachen und als „Geburtsstunde des Gay Pride“ (Bundeszentrale für politische Bildung) gelten. „Darum hissen wir die Fahne, um den Kampf für Gleichberechtigung weiterzuführen und der Welt unseren Stolz zu zeigen“, heißt es auf dem Portal Schwulissimo.
Mittlerweile taucht die Fahne besonders im Juni, dem sogenannten Pride Month, auch auf zahlreichen Webseiten, Social-Media-Accounts und Markenlogos von Unternehmen auf, die damit vordergründig ihre Solidarität mit der LGBTQI+-Community bekunden und nebenbei ihr eigenes Markenimage mit Attributen wie Toleranz, Gleichberechtigung und Vielfalt aufladen wollen. Das kann funktionieren – muss es aber nicht, wie zahlreiche Beispiele zeigen.
„Unternehmen signalisieren dadurch Offenheit und die Fähigkeit, sich auf aktuelle gesellschaftliche Themen einzustellen“, sagt Jens Böcker. Der Marketingprofessor an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sieht einen zentralen Erfolgsfaktor für Unternehmen darin, „Veränderungen zu interpretieren und aufzugreifen“. Dazu würden auch gesellschaftliche Diskussionen gehören, selbst wenn diese nicht unmittelbar mit dem Produktportfolio in Verbindung stünden: „Mit dem Einsatz der Regenbogenfahne setzen Unternehmen ein Signal – an ihre Kund*innen, Mitarbeitenden und Geschäftspartner*innen“, so der Marketingexperte.
Kulturkampf über die LGBTQI+-Rechte
Die Regenbogendiskussion ist hochgradig emotional aufgeladen, US-Medien sprechen sogar von einem Kulturkampf über LGBTQI+-Rechte. Deshalb sollten Unternehmen darauf achten, authentisch zu bleiben und nicht einfach auf einen „fahrenden Zug“ aufzuspringen, um die aktuelle Diskussion für mehr Aufmerksamkeit zu nutzen, warnt Marketingprofessor Böcker. Rainbow Washing, bei dem die tiefere Bedeutung der Regenbogenfahne weggewaschen wird, werde schnell identifiziert, führe dann zu einem gegenteiligen Effekt und beschädige das Image. Auch sei nicht auszuschließen, dass es zu Gegenreaktionen kommen kann, wie es kürzlich der US-Brauerei Anheuser-Busch passiert ist, die eine Transfrau für ihr Bier werben ließ und dafür heftige Kritik aus dem konservativen Lager erntete.
Als weiteres Negativbeispiel nennt er Burger King in Österreich: Für den „Pride Whopper“, der allein durch die Verwendung von zwei gleichen Brötchenhälften (zweimal Unter- oder Oberseite) ein Zeichen für gleichgeschlechtliche Liebe setzen sollte, aber aus der Community heraus als „peinlich“ und „sinnlos“ kritisiert wurde, entschuldigte sich hinterher sogar die verantwortliche Werbeagentur Jung von Matt Donau.
BMW sah sich 2021 mit dem Vorwurf der Doppelmoral konfrontiert, nachdem der Konzern sein Markenlogo in Regenbogenfarben einfärbte, allerdings nur in west- und südeuropäischen Märkten, nicht etwa im Mittleren Osten, in Russland oder in der Türkei. Der Autobauer konterte eine erste Welle der Kritik mit der Begründung, auf „länderspezifische kulturelle Aspekte Rücksicht zu nehmen“. Retourkutsche im Netz: Wenn also ‚länderspezifisch‘ queere Menschen unterdrückt würden, verzichte BMW auf das Hissen der Flagge. Der Autobauer verwies gegenüber dem BR auf sein queeres Netzwerk mit weltweit mehr als 500 Mitgliedern.
Auch die Lufthansa manövrierte sich vor einem Jahr in Proteststürme hinein, indem sie einen Airbus A320neo mit Sonderlackierung als „Lovehansa“ in die Luft steigen ließ. Damit wollte das Unternehmen „diesen wichtigen Teil der Unternehmenskultur auch prominent nach außen sichtbar“ machen. Die Kampagne startete, natürlich, pünktlich zum Pride Month, war aber immerhin auf sechs Monate angelegt.
Modehersteller bringen im Juni regelmäßig ganze Pride-Kollektionen in Regenbogenfarben oder mit anderen Symbolen der queeren Community auf den Markt und setzen sich damit dem Vorwurf aus, aus dem Regenbogen Profit schlagen zu wollen. US-Konzerne wie Walmart, AT&T, McDonald’s oder Amazon haben sich schon als Verbündete der queeren Gemeinschaft präsentiert, aber gleichzeitig homo- oder transphobe Politiker im Wahlkampf finanziert.
Regenbogenfahne weht auf Parkplätzen von Rewe-Märkten
Doch wie gelingt es Marken, sich tolerant und divers zu präsentieren, ohne dabei sofort Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Botschaften aufkommen zu lassen? Für Böcker bedarf es dazu eines ernsthaften Dialogs mit der Queer-Community und langfristig angelegter Maßnahmen: „Vertrauen muss über einen langen Zeitraum Schritt für Schritt erarbeitet werden, Basis dafür ist vor allem ein aufmerksames Zuhören. Nicht an der Community vorbei etwas entwickeln, sondern gemeinsam und abgestimmt.“ Die Unternehmen müssten individuell prüfen, welcher Weg am besten geeignet sei – eine Standardantwort gebe es nicht.
An Vorbildern mangelt es nicht: Das schwedische Unternehmen Happy Socks etwa spendet einen Teil seines Marketingbudgets und einen Teil der Erlöse der ganzjährigen Pride-Kollektion an die NGO InterPride. Auch die Jeansmarke Levi’s und die Modekette H&M unterstützen mit den Erlösen aus Pride-Kollektionen Organisationen, die sich für die Rechte der Community einsetzen.
Bei der Supermarktkette Rewe wehen von Weitem gut sichtbar und ganzjährig Regenbogenfahnen vor vielen Märkten. Das Unternehmen will damit nach eigenen Angaben seine „Haltung ausdrücken“, aber auch „ein vielfältiges Zeichen für eine vielfältige Mitarbeiterstruktur (…) und einen diskriminierungsfreien Arbeitsplatz setzen“. Rewe hinterlegt diese Botschaften unter anderem mit einer Selbstverpflichtung zu Diversität („Charta der Vielfalt“), die sich das Handelsunternehmen vor fünf Jahren gegeben hat. Eine Kooperation mit dem DFB hat Rewe nach dem Eklat um die „One Love“-Armbinde Ende 2022 beendet, was nicht nur in der eigenen Belegschaft gut angekommen sein dürfte.
LGBTQI+-Netzwerke bei Bosch, SAP, Beiersdorf & Co.
Das firmeneigene LGBTQI+-Netzwerk zähle gut 300 Mitglieder und diverse Ortsgruppen. Solche Netzwerke gibt es auch in anderen Unternehmen, vor allem bei den großen Arbeitgebern. Bosch ist damit schon 2012 gestartet, Be You @Beiersdorf, be.queer (Bertelsmann), Proud@Porsche oder Pride@SAP sind weitere prominente Beispiele. Die Netzwerke entstehen aus der Mitarbeiterschaft heraus, vorausgesetzt die Arbeitgeber unterstützen das. „Unternehmen sind keine Inseln, sondern ein wichtiger Teil der Gesellschaft und gestalten diese maßgeblich mit“, teilt Rewe auf Anfrage mit. Und was, wenn manche Kund*innen das anders sehen? „Kritik an unserer Haltung oder an unseren Werten halten wir gut aus“, heißt es kurz und knapp.
Das Portal Schwulissimo zählt zu den „bedeutungsvollsten Pride-Marketing-Kampagnen“ des vergangenen Jahres neben denen der Marke Oreo, von Tinder und auch von Absolut Vodka, einer Marke, die sich konsistent in ihrer Verbundenheit mit der LGBTQI+-Gemeinschaft gezeigt habe – „und das schon seit 1981, als das Hissen der Regenbogenflagge noch mehr ein Risiko als ein Marketingstunt für eine Firma war“, heißt es hier. Mit der aktuellen Kampagne „Out & Open“ unterstützt der Spirituosenhersteller die Besitzer*innen von LGBTQI+-Bars finanziell. Das sei ein sehr notwendiger Schritt, denn die Anzahl von queer-freundlichen Bars habe in den letzten Jahren stark abgenommen, so das Portal.
Die Online-Dating-App Tinder zeige echtes Engagement, ohne sich selbst zu sehr in den Vordergrund zu rücken: Sie arbeitet zusammen mit der Human Rights Campaign, um ein Gesetz in den USA zu verändern, das homosexuellen Männern immer noch verbietet, Blut zu spenden. In Deutschland hat der Bundestag ein entsprechendes Verbot gerade abgeschafft. Tinder möchte auf diese Weise einen echten Beitrag zu mehr Gleichberechtigung leisten.
Andere Marken gehen längst nicht so weit, aber das verurteilt die Community nicht pauschal: „Auch wenn die Doppelmoral vieler Firmen kaum auszuhalten ist, sollten wir das Pride-Month-Marketing nicht nur als Heuchelei abstempeln. Denn trotz allem fördern die Kampagnen die Sichtbarkeit unserer Gemeinschaft und stimulieren den Diskurs rund um inklusive Arbeitsplätze und Gleichberechtigung“, heißt es etwa auf Schwulissimo. Dieser Diskurs, das Engagement von Marken und die Verbundenheit zur queeren Community sollten sich nur nicht auf einen Monat im Jahr beschränken.
Indizien für Rainbow Washing
- Ein Unternehmen wirbt lediglich im Juni mit dem Regenbogen.
- Ein Unternehmen hat keine queer-freundlichen Initiativen ins Leben gerufen.
- Ein Unternehmen spendet nicht an queer-freundliche Organisationen.
- Queere Mitarbeiter*innen sind kaum inkludiert oder werden nicht eingestellt.
- Ein Unternehmen wirbt offensiv mit queeren Mitarbeiter*innen.
- Ein Unternehmen wirbt nur in LGBTQI+-freundlichen Ländern mit der Regenbogenflagge.
- Ein Unternehmen unterstützt queer-feindliche Organisationen oder Personen.