Von Anne-Kathrin Velten
Anfang des Jahrhunderts schuf Regisseur Steven Spielberg mit „Minority Report“ ein Gruselszenario für die einen und einen Marketingtraum für die anderen: Die Augen der Charaktere des Science-Fiction-Streifens wurden gescannt, während sie Produkte oder Plakate an- schauten. Kurz darauf wurden sie mit personalisierten holografischen Nachrichten begrüßt, während sie durch Geschäfte gingen.
Der Inhalt der Anzeige war auf ihre Ausgabegewohnheiten zugeschnitten. Gespenstisch wie faszinierend. Obwohl die Eye-Scanning-Technologie nach wie vor wohl in kaum einem Unternehmen auf der Agenda steht – das Prinzip dahinter wird durch die aktuellen Smart-City-Initiativen befeuert. Erlauben diese doch eine weitere Revolution im datenbasierten Marketing.
Der Trendbegriff Smart City beschreibt die integrierte Stadtentwicklung mithilfe der Digitalisierung. Sensoren und eine Echtzeit-Datenerfassung ermöglichen es, Daten in den Bereichen Energie, Gebäude, Infrastruktur und Mobilität zu verknüpfen und zielgerichtet für die Bedürfnisse von Bewohnern und Besuchern einer Stadt zu verarbeiten. Das Ziel der Smart Citys ist weltweit gleich: den demografischen Wandel und Urbanisierung so zu verbinden, dass die Lebensqualität erhalten oder sogar verbessert wird. Laut Transparency Market Research wird der globale Smart-City-Markt 2019 eine Investitionssumme von 1,27 Milliarden US-Dollar erreichen. Forscher des McKinsey Global Institute gehen davon aus, dass vernetzte Städte bis zum Jahr 2025 durch eingesparte Zeit, Kosten, Schadstoffe und eine produktivere Wirtschaft einen Mehrwert von 1,7 Milliarden Dollar erwirtschaften. Getrieben werden die Großprojekte gleichermaßen von der Privatwirtschaft wie auch von ökologisch ökonomischer Notwendigkeit.
Urbaner Markenansatz
Momentan leben 54 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, bis 2050 sollen es 70 Prozent sein. Die Weltbevölkerung soll im Jahr 2050 bereits 9,7 Milliarden Menschen erreichen.
Die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft steht, sind enorm. Städte hatten früher vier Funktionen: Wohnraum, Erholung, Arbeit und Transport. Aufgrund der vierten Revolution – der Digitalisierung – sind diese Grenzen verschwommen. „In der Stadt wird verhandelt, was wir als digitale Nomaden als unser Bedürfnis definieren und was folglich die Produkte und Services der Zukunft sind“, sagt Alexander Gutzmer, Professor an der Quadriga Hochschule in Berlin und Autor des Buchs „Marken in der Smart City“. „Hier gilt es auch für das Marketing, genau zuzuhören, sich zu vernetzen und urban getriebene Innovationsprozesse zu initiieren.“ Die Stadt selbst schaffe sich im Idealfall ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen. Für die Bewohner der Städte werden die Fortschritte in intelligenten Transportmitteln, dynamisch genutzten Parkplätzen oder perfekt abgestimmtem Energie- und Wassermanagement sichtbar. Für Marketer eröffnet sich die Möglichkeit, so nah wie nie an Verbraucher heranzukommen. Indem sie fast alles messen, was die Einwohner einer Stadt tun, können sie in einem nie da gewesenen Ausmaß Einsicht in die Vorlieben und Interessen der Verbraucher gewinnen, was höchst gezielte Marketingkampagnen ermöglichen wird.
„Stadtbezogenes Marketing und datenorientiertes Markenmanagement hängen eng zusammen“, so Gutzmer. Tech-Unternehmen wie IBM nutzen den Trend: Kaum hatte sich der Begriff Smart-City etabliert, ließ sich IBM die Bezeichnung „Smarter City“ schützen. Mit ihrer „Smarter City Challenge“ stellt das Unternehmen jährlich Städten sein Know-how zur Bewältigung der wichtigsten strategischen Herausforderungen zur Verfügung. Ein IBM-Team berät die Wettbewerbsgewinner drei Wochen lang pro bono zu Themen wie bezahl- barem Wohnraum, wirtschaftliche Entwicklung, Einwanderung und öffentliche Sicherheit. 2018 profitieren davon Busan in Korea, Palermo in Italien, San Isidro in Argentinien, San Jose in den USA und Yamagata City in Japan. Die Städte erhalten wertvolles Wissen, IBM gewinnt Erkenntnisse, was weltweit an Datennutzung möglich ist, und kann entsprechend neue Produkte entwickeln.
Wie sich das Marketing verändern muss
„Viele Unternehmen verfügen ja schon über stadtbezogenes Datenmaterial, sind sich dessen Nutzen aber noch nicht bewusst“, so Gutzmer. Das größte Potenzial hat der Stadtraum für Unternehmen, deren Angebote einen direkten Einfluss auf die Möglichkeiten und Grenzen urbaner Lebensstile haben. Hier stünden Mobilitätsanbieter an erster Stelle. „Aber abseits von bestehenden Branchen gilt gerade auch für Start-ups: Erfolgreich sind die meisten dann, wenn es gelingt, ihre Angebote von Städten und ihren Kulturen anreichern zu lassen oder es direkt aus urbanen Bedürfnissen abzuleiten.“ Ein Beispiel ist die Berliner Produktinnovation „City Tree“: künstliche Bäume, die Abgase schlucken. Es zeigt aber auch, dass urbanes Marketing immer riskant ist. „Stadtbezogene Produkte sind 24/7 sichtbar“, so Gutzmer. „Funktionieren sie nicht, so wird dies direkt und schonungslos markenrelevant.“
Chancen für den Einzelhandel
Die Zukunft der Städte ist besonders vielversprechend für den stationären Einzelhandel. Marken müssen allerdings mit der Flexibilität des Lebensstils ihrer Kunden Schritt halten. Studien zeigen, dass gerade in einer städtischen und damit anonymeren Gesellschaft Empathie im Einzelhandel eine immer größere Rolle spielt. Somit können Einzelhändler eine gesündere Stadt fördern, indem sie das Wohlergehen ihrer Konsumenten priorisieren. Wenn Unternehmen die Routine einer Person kennen, etwa welche Geschäfte sie besucht und auf welchem Weg sie zur Arbeit kommt, und zusätzlich über persönliche Informationen wie Alter, Geschlecht und familiäre Situation verfügen, können sie das Marketing sehr präzise aus- richten. Die vielleicht aufregendste Aussicht für Marketer ist es, endlich die Lücke zwischen Offline- und Onlinewelten zu schließen. Eine Marketingaktion direkt einem Verkauf zuzuordnen ist der Traum aller Werbetreibenden. Dank Data Science könnten künftig Informationen von Geräten in einer Smart City mit dem Onlineverhalten von Menschen verknüpft werden. Damit ließe sich zum Beispiel nachvollziehen, wenn jemand online nach einem Produkt gesucht hat und es eine Woche später im Stationärhandel kauft.
Erste Einzelhändler unternehmen bereits erste Schritte: So installierte die britische Kaufhauskette John Lewis Beacons, die Käufer über eine App identifizieren. Dank dieser Informationen erhalten Mitarbeiter von John Lewis Benachrichtigungen darüber, dass ein Kunde, der einen Artikel online gekauft hat, angekommen ist, um ihn abzuholen. Eine Smart City würde vergleichbare Innovationen im großen Stil ermöglichen.
Nescafé launchte für die Dauer der Mailänder Modewoche eine Kampagne, die Urbanität, Digitalisierung und soziales Leben verband. Passanten bekamen einen Kaffee angeboten, wenn sie auf der sogenannten „Hello Bench“ Platz nahmen. Die Bank wurde, aktiviert durch Sensoren, automatisch kürzer, sobald zwei Personen auf ihr saßen. Inmitten von Tausenden Menschen waren zwei Fremde so gezwungen, sich näher zu kommen.
Ein weiteres Beispiel ist die Smart Street in London. Nur einen Katzensprung vom Oxford Circus entfernt testet die Stadt verschiedene Zukunftstechnologien, darunter Strom erzeugende Bürgersteige und Luftreinigungsfilter. Sie sollen das Einkaufserlebnis sowohl für Kunden als auch für die Umwelt verbessern. Der Straßenbelag wandelt die Fußtritte der Passanten in Strom um, mit dem beispielsweise Straßenlaternen betrieben werden. Eine App informiert die Verbraucher unmittelbar darüber, wie viel Energie sie erzeugen. Gleichzei- tig verbindet sich die App mit lokalen Geschäften, um genau in dem Moment Angebote zu bewerben, in dem der Konsument vorbeigeht.
Zusammenarbeit mit Kommunen
Mit dem Konzept der Smart Citys müssen neue Fragen in Bezug auf Privatsphäre, Sicherheit und Zugang zu Informationen beantwortet werden. Zudem gibt es einen neuen machtvollen Akteur: die Städte selbst. Die Zusammenarbeit mit ihnen wird für Unternehmen elementar. So ist es denkbar, dass Behörden oder private Parteien, die Daten sammelnde Geräte installieren, versuchen, die Kosten durch den Verkauf der Daten wiederzuerlangen. Strategisch platzierte Out-of-Home-Geräte – einschließlich Smart Signage, Informationskioske, Werbetafeln und Videomonitore – sowie Smartphones und andere mobile Geräte sind
Erfolg hat, wer Sicherheit verspricht
Den größten Fehler, den Unternehmen begehen können, ist es den Konsumenten als Objekt oder, wie Gutzmer es nennt, als „Gescannten“ anzusehen. Denn der Verbraucher entscheidet selbst, welche ortsbezogenen Daten er freigibt. „Wir können davon ausgehen, dass der datenorientierte Konsument der Zukunft sich seines Werts als räumlicher Informationsproduzent bewusst ist und danach auch seinen Aufenthaltsort strategisch auswählt.“ Dafür will er eine Gegenleistung. „Ich als Konsument kann meinen jeweiligen Aufenthaltsort kapitalisieren“, sagt Gutzmer. Dies kann ein wirtschaftlicher Vorzug sein oder eben ein umfassendes Markenerlebnis.
Markentreibende und Unternehmen dürfen aber nicht die feine Linie überschreiten, ab welcher zielgerichtete Nachrichten zu aufdringlich werden. Bürger einer Smart City werden sich nur bei einem hohen Maß von Vertrauen wohlfühlen.
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