Festgemacht wird das „mehr“ an organisatorischen Kenngrössen: Der Existenz einer Marketingabteilung, personell grossartig ausgestattet, budgetär bestens versorgt, hinreichend mit Kompetenzen versehen, mit heissem Draht verbunden mit der Führungsspitze. Selbstbewusst und unhinterfragt wird unterstellt, dass ein „mehr“ an Input auch ein „mehr“ an Output zur Folge haben wird.
Marketinggeschichte als Erfolgsgeschichte
Getragen wird dieses Weltbild von einer weit verbreiteten dominanten Geschichtsschreibung des Marketings. Dessen Geschichte erscheint danach als eine Geschichte des kontinuierlichen Aufstiegs und Fortschritts in den letzten etwa hundert Jahren. Erst mit der Etablierung des Marketings als unternehmerische Funktion, organisatorische Abteilung und akademische Disziplin begannen Unternehmen sich um ihren Markt, ihre Nachfrage, ihre Kunden zu kümmern. Vorher dominierte das Produktionsparadigma. Es folgte dem Prinzip: „Verkaufe, was Du produzieren kannst.“ Abgelöst wurde es durch die Maxime: „Produziere etwas, das Du verkaufen kannst.“ Der heutigen „,marketing era“ waren die „production era“ und „sales era“ vorangegangen. Kontinuierlich befreiter und glücklicher wurden vor allem die Konsumenten. Wurde einst ihr primärer „Zwangsbedarf“, basierend auf ständisch reglementierter Lebensführung, befriedigt, lenkt in der modernen Konsumgesellschaft ihr „Wahlbedarf“ das Wirtschaftsgeschehen.
Eine wahre Erfolgsgeschichte?
Neuere Beiträge zur Geschichte des Marketings versehen diese berauschende Erfolgsgeschichte mit mehreren Fragezeichen. Angezweifelt wird das schematische Periodisierungsmodell ebenso wie das Postulat, dass Marketing erst im 20. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt habe. Empirisch belegt wird, dass in der unternehmerischen Praxis Marketing „avant la lettre“ schon im 19. Jahrhundert weit verbreitet war.
Empirische Untersuchungen machen vor allem klar, dass es Unternehmer waren, die Marketing als integrierter Teil ihrer unternehmerischen Tätigkeit betrieben, besser: lebten. Lange vor der Gründung von Marketingabteilungen und der Etablierung der akademischen Marketingdisziplin waren sie „savvy marketers (that) shared a powerful gift: the ability to discern how economic and social change affected consumer needs and wants“ (Nancy F. Koehn).
Zeichnen sich heutige Marketingabteilungen, insbesondere mächtige Abteilungen in Grosskonzernen, wirklich dadurch aus, dass sie diesen „savvy“ besitzen – oder gar mehr davon, als die angesprochenen Unternehmer des 19. Jahrhunderts? Ersetzen diese modernen Bürokratien erfolgreich die historischen Persönlichkeiten? Entfaltet die vielbeschworene Professionalisierung des Managements ähnlich innovative Wirkungen wie die Intuitionen, die Kreativität oder das Genie erfolgreicher Unternehmer in den früheren Stadien kapitalistischer Entwicklung? Rücken immer grössere Datenmengen und immer komplexere Modelle den Kunden treffsicherer ins Zentrum unternehmerischen Handelns als die soziale Einbettung, das persönliche Engagement und der direkte Kontakt von verantwortlich handelnden Unternehmern? Zusammengefasst: Sind moderne Marketingorganisationen tatsächlich „funktionale Äquivalente“ (Niklas Luhmann) für unternehmerische Führungspersönlichkeiten in der Geschichte, wenn es um die Umsetzung des (vermeintlich modernen) Marketingkonzepts geht?
Sollten zumindest einige der Fragen nicht mit einem deutlichen „Ja“ beantwortet werden können, dann könnten wir uns zwar begriffsgeschichtlich in der „marketing Ära“ befinden, real aber durchaus nicht. Mächtige Marketingabteilungen hätten uns dann wohl eher in eine „post-marketing Ära“ entführt.