Schluss mit Zeiterfassung!? 

Für viele Mitarbeitende in Agenturen ist Zeiterfassung ein Produktivitätskiller und Nervfaktor. Agenturen sind häufig darauf angewiesen. Dass es zumindest fast ohne Zeiterfassung geht, zeigen zwei Agenturen.
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Ab 2024 soll es laut dem Bundesarbeitsministerium eine gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung geben. In vielen Agenturen wird schon lange fleißig erfasst – es gibt aber Ausnahmen. (© Adobe Stock)

„Ja”. Das ist die relativ knappe Antwort von Jung von Matt CFO Dominik Fassl auf die Frage, ob sich Produktivität in Arbeitszeit messen lässt. Das erklärt auch, warum bei Jung von Matt die Zeiterfassung im Controlling und der Abrechnung von Projekten genutzt wird. „In Agenturen sind Personalkosten die größte Investition. Um diese besser zu verstehen, hilft eine möglichst genaue Zeiterfassung”, sagt Fassl.  

Auf die Frage nach einer Alternative wirft Jung von Matt Sollzeiten in den Raum, in denen eine Arbeit dann erledigt werden müsse. Das sei, so der CFO, für die Mitarbeitenden aber potenziell nachteilig. Dazu komme: Die Erfassung der Gesamtarbeitszeit ist mittlerweile ohnehin gesetzlich vorgeschrieben (siehe Infokasten: Gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung). Die genauere Erfassung auf Projekte bedeute so nur unwesentlich mehr Aufwand, sagt Fassl. 


Info: Gesetzliche Pflicht zur Zeiterfassung 

Der Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums sieht vor, dass ab 2024 eine elektronische Zeiterfassung erfolgen muss. Alle Zeiten ab der nullten Stunde müssen erfasst werden. Zuvor war es nur notwendig, Stunden zu erfassen, die über acht Stunden Arbeit hinausgehen. Damit reagiert die Regierung auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das Bezug auf einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nimmt. Das Gesetz ist noch in der Regierungsberatung. Das Arbeitsministerium sagt aber, dass das EuGH-Urteil bereits jetzt beachtet werden muss. Bei den Urteilen und dem Gesetzesentwurf geht es rein um die Einhaltung von Arbeitszeitrichtlinien – eine Projekterfassung, wie viele Agenturen sie umsetzen und um die es in diesem Artikel geht, ist nicht verpflichtend. 


Getrickst wird sowieso 

Mario Motzkuhn, geschäftsführender Gesellschafter von w3 digital brands, sieht das völlig anders. Produktivität lässt sich aus seiner Sicht nicht in Zeit übertragen. Stundenerfassung ist für ihn Scheinproduktivität. Denn: Bei der Zeiterfassung würde sowieso getrickst, weil gerade Kreative mal im Loch sind. Dann buche man die Stunden eben auf einen anderen Job. Davon will Motzkuhn weg: „Für mich steckt dahinter ein Menschenbild: Vertraue ich meinen Leuten oder muss ich sie zur Jagd tragen? Wenn ich am Anfang faire Preise verhandle, dann ist die Produktivität bei den Kreativen viel höher, weil sie letztlich nicht in ein Stundenkorsett gezwängt werden.” 

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Mario Motzkuhn ist geschäftsführender Gesellschafter von w3 digital brands. ©Philipp Uricher

Natürlich muss auch bei w3 digital brands der wirtschaftliche Erfolg sichergestellt werden. Doch das lässt sich laut Motzkuhn problemlos auch ohne detaillierte Projekterfassung lösen: „Wir wissen, wie unsere monatlichen Ausgaben aussehen und was wir dann erwirtschaften müssen, damit hier weiter Licht brennt, wir Gehälter zahlen und wir Süßigkeiten und Kaffee haben. Das ist die Messlatte.” Wie produktiv ein Mikroprojekt ist, sei daher gar nicht so wichtig, solange auf der Makroebene am Ende ein Plus steht. 

Umdenken auch bei Kunden nötig 

In der Praxis überlege man dann, wie aufwändig Projekte sind und wie viel man für diesen Aufwand verdienen muss. Die Entstehung der Preise unterscheidet sich also letztlich gar nicht großartig von anderen Agenturen. Nur, dass Mitarbeitende nicht erfassen müssen, wie viel Zeit sie nun exakt benötigen. Aus Motzkuhns Sicht funktioniert das Modell, das bei w3 seit vier Jahren etabliert ist: Ein Umdenken ist aus seiner Sicht vor allem bei Kunden notwendig: „Der Kunde sollte aber verstehen, dass er davon profitiert, einen Wert zu kaufen und nicht Zeit. Wenn Kunden das einmal verstanden haben, dann feiern sie unser Modell und wollen gar nicht mehr zurück.” 

Die Freiheit der Mitarbeitenden hilft aus Sicht von Motzkuhn dabei, dass Mitarbeitende unternehmerisch denken und damit ihren Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Und das macht letztlich auch die Mitarbeitenden zufrieden: „Wenn Du Deine Mitarbeitenden wie Kinder behandelst, kannst Du nicht gleichzeitig erwarten, dass sie verantwortungsvoll und reif handeln. Du erreichst eher das Gegenteil”, ist der Agenturchef überzeugt. 

Ein ähnliches Menschenbild gibt es auch bei der Agentur The Trailblazers. Geschäftsführer Jannis Johannmeier glaubt, dass Mitarbeitende da sind, weil sie Positives schaffen wollen. Er sagt deshalb: „Schenke ich als Verantwortlicher dazu das Fundament aus dem Dreieck Vertrauen, Verantwortung und Wertschätzung, kommt meiner Meinung nach losgelöst von Zeiten ein gutes Ergebnis dabei raus für alle Seiten.“ Die Trailblazers sind daher vor drei Jahren ganz ohne Zeiterfassung gestartet. 

Ganz ohne Zeiterfassung geht es nicht 

Erfolg bemisst die Agentur anders: „Ob wir erfolgreich sind, messen wir im Drei-Ampel-System, das wir gerade einführen”, sagt Johannmeier. Die erste Ampel: “Macht das Spaß, werden wir gewertschätzt und geht es in Richtung unserer Vision.” Die Kernfrage dabei sei: Ist die Beziehung zu den Partnerinnen und Partnern gut. Die zweite Ampel sei: “Ist der Partner mit unserer Leistung und uns zufrieden?” Das habe aber nichts mit der Zeit, die die Agentur investiere, zu tun. Und die dritte Ampel zeige unterm Strich natürlich auch, “ob da eine positive Zahl steht, sprich, ob wir rentabel sind”, so der Geschäftsführer.

Aber auch bei den Trailblazers scheitert die Vision manchmal an den Kunden: „Wir arbeiten teilweise mit Milliarden-Konzernen zusammen und die haben die Flexibilität nicht, da muss in Personentagen abgerechnet werden. Dann rechnen wir das natürlich irgendwie um und schreiben da irgendwelche Zahlen dran. Aber intern nutzen wir diese Logik nicht”, sagt Johannmeier. 

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Jannis Johannmeier ist Geschäftsführer der Agentur The Trailblazers. ©Leslie Johannmeier

Im Sommer 2023 haben die Trailblazers dann doch ein Zeiterfassungssystem eingeführt: „Das, was wir jetzt haben, machen wir nur, weil der Staat es möchte. Ohne dürfen wir leider nicht. Das ist aufgezwungen und passt eigentlich nicht zu unserer DNA”, so der Agenturchef. Jetzt, wo die Zeiterfassung ohnehin notwendig ist, nutzen die Trailblazers das auch ein Stück weit für die Projekterfassung. 

Gut angekommen ist das aber nicht, sagt Johannmeier: „Es wirkt immer wie Überwachung, auch wenn wir es nicht so beabsichtigen. Aber klar kann ich theoretisch abends gucken, wer wie viel gemacht hat. Und auch wir selber hatten damit bürokratischen Aufwand und haben natürlich auch ein Stück weit Kosten, für etwas, das uns absolut widerstrebt.”  

Eigene Arten von Arbeitsverträgen

Schon zuvor hatte die Bürokratie den Trailblazers Steine in den idealistischen Weg gelegt: „Wir haben am Anfang sogar versucht, eigene Arten von Arbeitsverträgen zu machen, die nicht über Arbeitszeit gehen. Aber das ist gesetzlich super schwierig”, sagt Johannmeier und erläutert seine Beweggründe: “Es gibt Leute, die machen in 27 Stunden einen großartigen Job, und denen fehlen am Ende 10 Stunden. Und es gibt Leute, die machen in 50 Stunden nur Schrott. Das will ich nicht befüttern.” 

Deswegen lebt der Agenturverantwortliche mit seinem Team eine andere Kultur: „Wenn ich an einem Tag bis 11 Uhr was Großartiges geleistet habe, dann kann ich auch mal mit meiner Frau ins Sauerland zum Skifahren abdüsen. Weil der Tag sowieso auf grün ist. Alles was danach kommt, wäre Arbeitszeit, aber würde den Tag nicht mehr besser machen, weil meine Leistung längst erfüllt ist.” Das funktioniert so aber natürlich nur, wenn er bei Kunden keine Zeit abrechnen muss. Ein Grund mehr, der Zeiterfassung auf Projektebene Lebewohl zu sagen. 

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas Pixelpark. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.