Geht es um die Stimmungslage der Marketing-Disziplin, ist dieses Ergebnis sicher repräsentativ. Misserfolge werden dort überwiegend verschwiegen oder verdrängt. Der Disziplin liegt es sehr am Herzen, ihre wahrgenommenen Erfolge zu feiern. Und so feiert sie (sich) fast ständig. Nun: Besser dastehen zu wollen als man ist, sich besser fühlen zu wollen als es die reale Situation nahelegt, es sich allen Widrigkeiten zum Trotz gut gehen lassen zu wollen, kann ja kein ernsthafter Vorwurf sein, auch nicht an Marketer.
Schon bedeutender ist der Hinweis, dass den Erfolgen im Marketing sicher eine sehr viel höhere Zahl an gescheiterten Projekten, grandiosen Misserfolgen und erschütternden Niederlagen gegenüber steht. Im Marketingalltag wie in der akademisch angeleiteten Entwicklung von Marketingkonzepten dürfte die Erfolgsquote längst nicht bei 98 Prozent (wie es die Suchmaschine nahelegt) liegen. Auf ein gelungenes Projekt dürften eher hunderte von misslungenen Projekten kommen. Brancheninsider wissen, dass auf einen nachhaltig erfolgreichen Produktlaunch wohl tausend Flops folgen. Und man muss sich schon durch sehr viele Artikel in mehr oder weniger akademischen Marketing-Journalen quälen, bevor man auf einen grundlegend sachdienlichen und erfolgversprechenden Hinweis stößt.
Nötig ist eine Kultur des Lernens
Besorgniserregend wird das Missverhältnis von Erfolg und Scheitern, wenn man es als Indiz für die Lernkultur der Disziplin deutet. Dominant ist wohl der offensichtlich hilflose Versuch, auf die Angst vor dem Scheitern dadurch zu reagieren, dass man Niederlagen gar nicht erst zulässt. Die alles durchdrängende Kultur der Risikoscheu unterdrückt jede Lernbegier und ist fundamental innovationshemmend. Noch mehr Marktforschung produziert sicher ständig noch mehr Daten. Wegweisende Informationen und richtungsweisendes Wissen werden dadurch längst nicht generiert. Die sprichwörtliche „Cover your ass“-Mentalität entlastet emotional, reale Niederlagen, Misserfolge und Scheitern werden dadurch nicht weniger wahrscheinlich.
Alle wortreichen und glanzvoll inszenierten Beteuerungen, dass man stets bereit sei, aus Niederlagen zu lernen, werden schnell zu leeren Worthülsen, wenn es um die Absicherung der eigenen, stets labilen Karriere geht sowie um die Erreichung der diktierten Budgetziele oder die notwendigerweise positive Darstellung der Geschäftsperspektiven auf der kommenden Investorenkonferenz. Hinweise auf Fehlverhalten, die etwa von enttäuschten Kunden kommen, werden routinemäßig ignoriert, bagatellisiert, bekämpft oder durch „bessere Kommunikation“ besänftigt. Den trendigen Verweisen auf die ständige Arbeit am Kundenbeschwerdemanagement oder der Optimierung der „customer journey“ mit den Augen und im Interesse des Kunden liegen kaum ernsthafte, mühevolle, neue Wege weisende Bemühungen zugrunde.
Erfolg und Scheitern eng verknüpft
Selbst wenn man das allgegenwärtige Scheitern der eigenen Hyperaktivität irgendwie doch auch zähneknirschend zur Kenntnis nimmt, kümmert man sich nicht systematisch um die Aufarbeitung dieses Scheiterns. Man lernt eben genau nicht aus Niederlagen. Man zelebriert vielmehr das Nachahmen von vermeintlichen Erfolgen anderer – geadelt durch die Denkfigur des „best practise“.
So verpasst eine ganze Disziplin systematisch die Chancen des wirklichen Lernens aus Fehlern. So nutzt sie nicht die produktiven Kräfte des Scheiterns. So nimmt sie nicht zur Kenntnis, wie eng miteinander verknüpft Erfolg und Scheitern sein können (Henry Petroski) – wenn man sich ernsthaft, glaubwürdig und nachhaltig um die Aufarbeitung des vielfachen Scheiterns kümmert. Aber die Musik hat auf der Titanic ja auch bis zuletzt freudig aufgespielt.
Über den Autor: Jürgen Häusler war Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreute zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig.