Die materiellen Ressourcen Ware und Fläche, jahrelang zentrale Bestandteile von Handelsgeschäftsmodellen, verlieren zunehmend an Bedeutung. In den Fokus rücken die immateriellen Ressourcen Personal und Information. So werden Service- und Analytik-Kompetenzen von Mitarbeitern sowie detaillierte Informationen über Kunden, ihre Lebenswelt, Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu führenden Erfolgsfaktoren im Retail 4.0, prognostizieren die Unternehmensberatung Bearing Point und das Institut für Internationales Handels- und Dienstleistungsmanagement IIHD in einer aktuellen Studie.
Nachholbedarf bei europäischen Händlern
„Unternehmen, denen es nicht gelingt, Kundendaten stringent aufzuzeichnen und diese zu einem Kundenbild zusammenzuführen, haben einen strategischen Wettbewerbsnachteil“, sagt Kay Manke, Partner bei Bearing Point. Neben der Verfügbarkeit von Daten spielt dabei zunehmend auch die Entscheidungsgeschwindigkeit eine erfolgskritische Rolle. Investitionen in Datenstrategie, -analytik und faktenbasierte Entscheidungsfindung sowie die Entwicklung innovativer Auswertungsmöglichkeiten haben deshalb steigenden Einfluss auf den Unternehmenserfolg und die Rendite.
Im europäischen Handel sieht Bearing Point hier allerdings noch erheblichen Nachholbedarf. Nicht einmal jedes zehnte Unternehmen sei technologisch derzeit fit, um ein auf Geschwindigkeit basierendes Handelsgeschäftsmodell zu etablieren. Die Fachmesse EuroCIS im Rahmen der EuroShop bietet einen Rahmen, um sich über aktuelle Trends und Lösungen im Bereich Data Warehouse, Business Intelligence und Predictive Analytics zu informieren.
Dazu gehört beispielsweise In-Memory-Datenbanktechnologie wie SAP Hana für das sehr schnelle Auswerten sehr großer Datenmengen. Auf der EuroShop besteht Gelegenheit, sich über die neue Hana-basierte Version des Warenwirtschaftssystems S4 for Retail & Fashion zu informieren, die neue geschwindigkeitsbasierte Geschäftsmodelle unterstützt. Die Lösung bietet verschiedene neue Funktionen für kurzlebige Saisonware und zielt im ersten Schritt auf die Fashion-Branche ab.
PoS-Daten mehrmals täglich analysieren
Bei der Weiterentwicklung der WWS wird SAP künftig mit der internationalen Technologieberatung Accenture zusammenarbeiten. „Retail erfordert Geschwindigkeit“, sagt Jill Standish, Senior Managing Director of Retail bei Accenture, „sei es im Dialog mit Kunden, bei der Markteinführung neuer Produkte, der Expansion in neue Regionen, der Integration von Zukäufen oder beim Verbessern der operativen Effizienz“.
Das gilt jedoch nicht nur für Mode: Auch andere Sortimente lassen sich auf In-Memory-Basis künftig immer besser steuern, darunter beispielsweise das Geschäft mit Nonfood-Aktionsware im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) oder kurzlebige Trendartikel aus dem Elektronikbereich. Bei Lidl in Österreich ist SAP Hana bereits seit 2015 erfolgreich im Einsatz, der Roll-out in weiteren Ländern läuft. Mit dem Customer Activity Repository CAR nutzt Lidl neben dem WWS auch den zweiten SAP-Baustein auf Hana-Basis. CAR übernimmt dabei die Verarbeitung von Bon- und Kundendaten sowie Beständen in Echtzeit. So lassen sich Point-of-Sale (PoS)-Daten mehrmals am Tag in Echtzeit analysieren.
Data Lakes integrieren
Neben Kassen- oder Bestandsdaten erschließen Retailer zunehmend weitere neue Datenquellen für ihre Analysen, beispielsweise Text- und Audiodateien aus dem Kundenservice oder Daten von Smartphones, die es erlauben, den Kundenlauf nicht nur auf der Website sondern auch im stationären Handel nachzuverfolgen – anonym oder, mit Einwilligung des Kunden, auch identifizierbar. „In diesen Big Data schlummert gewaltiges Potenzial. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktur lassen sie sich aber nicht verlustfrei in klassische Data Warehouses überführen“, sagt Volker Giessler, Senior Industry Consultant bei Teradata.
Eine mögliche Lösung, über die der Datawarehouse-Anbieter auf der EuroCIS informiert, sind sogenannte Data Lakes: In diesen Systemen können Unternehmen kostengünstig große Mengen an Daten vorhalten – unabhängig von ihrer Struktur oder ihrer späteren Verwendung. „Data Lakes sind allerdings kein Allheilmittel“, warnt Giessler. Sie basieren meist auf Open-Source wie Hadoop oder NoSQL-Technologien und können beispielsweise nicht ohne weiteres in der Standarddatenbanksprache SQL bedient werden. „Für Unternehmen ist es deshalb sinnvoll, einen Data Lake in eine übergreifende Architektur zu integrieren und so die Vorteile des Data Warehouse mit denen eines Data Lake zu vereinen“, rät Giessler.
Zögerlicher Gang in die Cloud
Die drängende Frage, wie und wo sich Datenmassen flexibel und kostengünstig speichern und verarbeiten lassen, führt heute unweigerlich zum Thema Cloud. Das Potenzial von Cloud Computing als Schlüssel-Technologie der Digitalen Transformation sei auch in Deutschland längst erkannt; trotzdem wären viele Unternehmen beim Gang in die Cloud noch zögerlich, weiß Thomas Kurian, President Product Development bei Oracle. Mit der neuen Lösung „Cloud at Customer“ adressiert Oracle diese Sorge und unterstützt Organisationen dabei ihre Daten und Prozesse bei Bedarf nahtlos in die Cloud zu migrieren. CIOs behalten dabei die Kontrolle über die Infrastruktur, denn sie könnten die Cloud Services „on-premise“, also in ihrem eigenen Rechenzentrum nutzen, verspricht Oracle.
Erhebliche Vorteile bei Kosten, Geschwindigkeit und nahtloser Datenintegration bietet Software-as-a-Service SaaS aus der Cloud. So bietet der deutsche Cloud-Commerce-Spezialist Demandware nach der Übernahme durch Salesforce Mitte 2016 jetzt die noch bessere Anbindung von Marketing und Kundenservice an seine E-Commerce-Lösung. Zu den aktuellen Neuerungen gehört auch die Integration der mobilen Zahlungslösung Apple Pay via iPhone, iPad oder Mac. „Verbraucher kaufen inzwischen am liebsten über mobile Geräte ein. Nur leider wurde der Checkout-Prozess bisher nicht entsprechend angepasst“, sagt Elana Anderson, Senior Vice President of Marketing bei Demandware. Mit der neuen Lösung könnten Händler jetzt Apple Pay in Onlineshops integrieren und Traffic noch leichter in Umsatz verwandeln.
Lösungen für Preisoptimierung und Replenishment
Auf cloudbasierte Predictive Applications für den Lebensmittel- und Modehandel ist das Karlsruher Unternehmen Blue Yonder spezialisiert. Die Lösungen zur Preisgestaltung und zur Warendisposition basieren auf innovativen Machine-Learning-Algorithmen, die von Data Scientists speziell für den Handel entwickelt wurden. Das Unternehmen zeigt auf der EuroCIS seine Anwendungen, die unter anderem bei Kaufland (für Frischfleisch), dm, Bauhaus und der Otto Group im Einsatz sind. Beim Thema dynamische Preisfindung seien deutsche Händler Nachzügler – verglichen mit Kollegen in den USA und Großbritannien, so die Einschätzung von Blue Yonder-CEO Uwe Weiss.
Angesichts der Möglichkeiten und Herausforderungen im Multichannel-Handel rät Weiss allen Anbietern zur Digitalisierung: „Händler müssen täglich so viele Entscheidungen über Preise und Lagermengen treffen, dass das Bauchgefühl als Entscheidungskriterium längst nicht mehr taugt.“ Lernende Algorithmen könnten dagegen angesichts der immensen Datenmengen, die die Grundlage für Entscheidungen bilden, schnell und treffsicher agieren.
Die Pricing-Software von Blue Yonder lernt zum einen automatisch anhand aktueller und historischer Abverkaufsdaten die Zusammenhänge zwischen Preis und Absatz. Dabei berücksichtigt sie Faktoren wie Artikel (bei Textilien inklusive Farben und Größen), Filiale, Zeitpunkt, Wetter oder Mitnahmeeffekte. Darüber hinaus lässt sich die Lösung auf die individuelle Preisstrategie des Händlers abstimmen. Hier fließen Kriterien ein wie Preisimage, Abstand zu wichtigen Wettbewerbern, maximale Zahl der Änderungen pro Woche oder Preisrundungsregeln.
Lernendes System erkennt Wünsche
Um künstliche Intelligenz geht es auch am Stand von IBM. Das Unternehmen präsentiert Ansätze für den Einsatz der Cognitive Computing-Software Watson im Handel. Das System verarbeitet natürliche Sprache, lernt dabei automatisch dazu und ist in der Lage, Wünsche, Intuitionen und sprachliche Nuancen zu erkennen.
Zu den ersten Anwendern im Handel gehört die amerikanische Outdoor-Marke The North Face, die Watson auf ihrer Website als persönlichen Kundenberater für Jacken nutzt. Auch die US-Kaufhauskette Macys hat Mitte 2016 ein Pilotprojekt gestartet. Mit Hilfe von Watson sollen sich Kunden schneller und besser in den unterschiedlich aufgebauten Filialen zurechtfinden. Dazu müssen sie künftig keine Etagenpläne mehr studieren oder nach Hinweisschildern suchen. Mit der App „Macy‘s on Call“ auf dem Mobiltelefon genügt die gesprochene Frage: „Wo sind die Damenschuhe?“
Die EuroShop 2017 ist für Fachbesucher von Sonntag, 5. März, bis Donnerstag, 9. März, täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Tageskarte kostet 70 Euro (50 Euro im Online-Vorverkauf), die 2-Tageskarte 90 Euro (70 Euro im OVV) und die Dauerkarte 150 Euro (130 Euro im OVV). Die Eintrittskarten beinhalten die kostenlose Hin- und Rückfahrt zur EuroShop mit Verkehrsmitteln des Verkehrsverbund-Rhein-Ruhr (VRR). Erstmals veranstaltet wurde die EuroShop im Jahr 1966 von der Messe Düsseldorf, sie findet im Drei-Jahres-Turnus statt. Ideeller Träger ist das EHI Retail Institute.