Die Welt beneidet Sie um ihre Neubürger. Und das schon lange. Ihre Geschichte ist bekanntlich durchzogen und in den besten Momenten geprägt von solch weitsichtiger Weltoffenheit. Vereinzelte Unruhestifter, insulare Misstöne und selbst tieftraurige und sehr irritierende Störfälle sollten das Erfolgsmodell „Schmelztiegel Schweiz“ nicht entscheidend aus der Bahn werfen dürfen. Dieser Wunsch wird allerdings nicht ohne Anstrengungen und Mühen ihrerseits in Erfüllung gehen. Entrüsten Sie sich! wenn diese real gewordene Utopie des „global village“ von der Ignoranz der ewig Gestrigen angefeindet wird.
Der Schmelztiegel Schweiz. Eine rundherum gewinnbringende und erfreuliche, wenn auch anstrengende, Konstellation also, die wir feiern sollten. Was liegt dieser glücklichen Verbindung zugrunde?
Die Schweiz als Marke
Wäre die Schweiz eine Marke – was sie nicht ist, sie ist eine Nation – wenn also diese Schweiz eine Marke wäre, was würde sie so begehrlich machen? Ihre Kernwerte und ihre Kerntugenden. Nicht die kitschigen Klischees der Postkartenidyllen. Nicht die „Zerrinnerungsbilder“ (frei nach Fritz Senn) älterer Herren bei Festtagsreden. Anziehend sind vielmehr die zeitlosen und zeitgemässen Kernwerte. Und dabei nicht einfach die immer zitierten, aber eben doch oberflächlichen Umschreibungen von vermeintlicher Swissness – am liebsten im Superlativ: beste Qualität, höchste Innovationskraft, älteste Tradition und so weiter.
Viel attraktiver ist das Zweideutige. Vielleicht ist es sogar das Widersprüchliche, in jedem Fall das Ambivalente, das besonders anzieht und bewegt. Es ist, so mein konkreter Vorschlag, die Gleichzeitigkeit von traditionell und erfinderisch, das Nebeneinander von zurückhaltend und exklusiv, der Gegensatz von auf sich selbst bezogen und weltoffen sein. Traditionell erfinderisch, zurückhaltend exklusiv, auf sich bezogen weltoffen. So oder zumindest so ähnlich lautet für mich die Erfolgsformel. Der große britisch-amerikanische Historiker Tony Judt hält das in seinen Memoiren so fest: „Die Schweiz … ist voller Gegensätze – effizient, aber provinziell, schön, aber langweilig, gastfreundlich, aber reizlos“ (Tony Judt: Das Chalet der Erinnerungen, 2012: 219).
Natürlich: Ambivalenz ist für einfache Gemüter zu anstrengend. Die hätten es immer lieber einfacher, eindeutiger, einfältiger. Sie sind im Kampf um Leser und Wähler sicher, dass dies auch populärer ist. Deshalb begegnet uns dieser vereinfachende Populismus natürlich nicht nur am Stammtisch. Wir treffen ihn auch lesend im Wochenzeitungsabstand an und vernehmen ihn mit hoher Frequenz in politischen Arenen. Das macht die Haltung gefährlicher. Aber nicht richtiger. Nicht weniger ignorant selbst gegenüber den eigenen Interessen.
Als Gegenentwurf ist für intelligente, bewegliche und tolerante Geister gerade Ambivalenz durchaus attraktiv. Dies ist, da bin ich sicher, das erfolgreichere Konzept für die potentiellen Neubürger, die sich die Schweiz wünschen sollte.
Die Neubürger als Kunden
Wären diese interessierten potentiellen Neubürger Kunden – was sie nicht sind, es sind mündige Weltbürger – wenn also potentielle Neubürger potentielle Kunden wären, was würde diese Kunden so attraktiv für die Schweiz machen? Zunächst ihr hohes Anspruchsniveau. Fordernd, durchaus herausfordernd. Man will nicht in der Schweiz leben, um ein lediglich durchschnittliches Leben zu führen. Dann ihr energischer Gestaltungswille. Wer begibt sich schon an diesen oft als paradiesisch verklärten Ort, um ihn dann seinem Schicksal zu überlassen? Und schliesslich ihre vielfältige Exzellenz. Besonders begabte Menschen wollen an diesem besonders attraktiven Ort leben. Das fördert und bisweilen fordert die neue Heimat.
In der Summe hat diese Konstellation, hat diese Verbindung, das Potential zum „dream team“. Also ein Erfolgsmodell. Nicht einfach, aber einfach gut. Nicht perfekt, aber optimal. Nicht unbedingt auf den ersten Blick atemberaubend. Aber mit einem überwältigenden bleibenden positiven Eindruck.
Eine Vertrauensbeziehung
Abschließend: Wie fühlt sich diese Verbindung an? Zugegeben, es klingt nicht wirklich nach einer Liebesaffaire oder einer Liebesheirat. Wieder Tony Judt: „One is not supposed to love Switzerland“ (219). Die Schweiz zu lieben scheint also nicht „in“ zu sein. Kein Sturm. Und auch kein Drang. Nicht die Folge von kurzzeitiger Erblindung sondern das Ergebnis von reflektiertem Kalkül. Kein Sprint. Eher Marathon. Eigentlich ein Hindernis- und Hürdenlauf. Mit blauen Flecken, die auch weh tun.
Aber das ist, mit Gelassenheit, Weitsicht und in anlassgemässer Feierlaune betrachtet, in Ordnung so. Es muss nicht immer Liebe sein. Denn es kann im absoluten Glücksfall auch mehr sein … Es kann Vertrauen sein. Hierzu George MacDonald, schottischer Schriftsteller, gegen Ende des 19. Jahrhunderts: „To be trusted is a greater compliment than being loved.“
Neubürger und die Schweiz vertrauen einander. Vertrauen macht Sinn. Vertrauen setzt Energien frei. Vertrauen ist nachhaltig. Und das passt auch wieder sehr gut zur Schweiz. Denn wenn man fragen würde: „Nachhaltigkeit. Wer hat`s erfunden?“ dann müsste die Antwort sicher lauten: wir in der Schweiz. Für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit weltweit gerühmt. Ökologische Verantwortung als politisches Ziel fixiert. Und als „melting pot“ vielleicht noch ein Geheimtipp für praktizierte Grenzen überwindende internationale gesellschaftliche Solidarität.
Ein letztes Mal Tony Judt: „Die Schweiz lässt einen träumen, aber nur in Massen. … man wartet einfach auf den nächsten Zug – auf die Sekunde pünktlich, zuverlässig. Es passiert nichts. Dies ist der glücklichste Ort der Welt. Wir können uns nicht aussuchen, wo unser Leben beginnt, aber vielleicht, wo es zu Ende geht.“ (221 und 223/4).
Über den Autor: Jürgen Häusler ist Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreut zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig, publiziert laufend zum Thema Marke und hält Vorträge an Universitäten, auf Kongressen und Tagungen.