Für Justin Wallace begann die Revolution mit einem Anruf. „Hey, wir haben etwas Neues“, informierte ihn der Mitarbeiter eines Zulieferers, des italienischen Kunststoffherstellers Mazzucchelli. Gemeint war recyceltes Plastik, in der gleichen Qualität wie Neuware. Wallace, Senior Product Manager bei der Brillenmarke VIU Eyewear, horchte auf. „Ich dachte sofort: Bei so einer Innovation wollen wir gern Vorreiter sein“, erinnert er sich heute.
Rund zwei Jahre später ist daraus die Brillenserie „RE Collection“ geworden. Dazu gehören fünf Modelle, jedes gibt es in mehreren Farben. Sie bestehen aus dem Material: Acetate Renew. Das Recycling ist den Brillen nicht anzusehen, und es gebe auch keine Unterschiede bei Tragekomfort oder Bruchsicherheit, sagt Wallace. Aber: Die CO2-Emissionen pro Gestell liegen rund ein Drittel niedriger als bei denen aus konventionellem Acetat. Das kommt gut bei Kund*innen an, gerade bei jüngeren. „Wir zeigen damit, wie ernst wir Verantwortung nehmen“, sagt Wallace’ Kollegin Laura Schweizer, verantwortlich für Sustainability und Marketing. „Für die Marke ist das superwichtig, um relevant zu bleiben.“ Bis 2025 soll nahezu die gesamte Brillenkollektion auf Acetate Renew umgestellt sein.
Es ist eine Geschichte, wie sie viele Marken gern erzählen würden – doch leider ist sie eher eine Ausnahme. Trotz wachsendem Umweltbewusstsein kann von einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft bei Plastik keine Rede sein. Weltweit werden jährlich 400 Tonnen Kunststoffe neu hergestellt – aber nur neun Prozent der Altkunststoffe recycelt. In Deutschland, wo es mit dem Dualen System eine etablierte Infrastruktur für die Entsorgung von Verpackungen gibt, fällt die Bilanz etwas besser aus: Nach Angaben des Gesamtverbands Kunststoffverarbeitende Industrie wird rund ein Drittel der gesammelten Kunststoffabfälle stofflich verwertet. Zugleich sind von den 14 Millionen Tonnen Plastik, das die Branche im Jahr zu Produkten verarbeitet, nur zwölf Prozent Rezyklate.
Mit anderen Worten: Es steht mehr Altplastik zur Verfügung, als genutzt wird – viel mehr sogar. Und das, obwohl viele Marken ihre Produkte lieber heute als morgen mit dem Aufdruck „Material aus Recycling-Kunststoff“ schmücken würden. Was ist da los?
Der Markt ist ineffizient – doch das beginnt sich zu ändern
Wer Antworten sucht, stößt auf einen Markt, der ebenso komplex wie ineffizient ist. Das beginnt damit, dass Produkte so gestaltet werden, dass sie von Recyclern nicht oder nur mit großem Aufwand aufgearbeitet werden können, und es endet damit, dass Rezyklate deutlich teurer sind als virgin plastic. Dazwischen stehen Marken, die sich nicht bewegen, weil sie nicht wissen, wie eine Umstellung geht, was sie bringt und ob sie Rezyklaten vertrauen können.
Man lernt aber auch, dass es Menschen gibt, die das ändern wollen. Fridolin Pflüger zum Beispiel, Geschäftsführer des Dresdner Start-ups HolyPoly. An den Berater wenden sich Marken, die kreislauffähig werden wollen. Es sind oft spannende Projekte: Für die Babymarke NUK bauten die Experten von HolyPoly zum Beispiel eine eigene Wiederverwertung auf: Aus der Wegwerfware Schnuller wurde ein Rohstoff für Sandförmchen.
„Die Frage ist immer, ist ein Unternehmen wirklich bereit, etwas zu tun?“, sagt Pflüger. Umstellung bedeutet Aufwand. Oft ist Altplastik nur in anderen Qualitäten oder Farben erhältlich; ein reines Weiß aus Recyclingplastik herzustellen ist zum Beispiel nahezu unmöglich. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel: Jetzt hat sich die Produktion dem Material anzupassen und nicht umgekehrt. „Außerdem muss meist eine komplett neue, vertrauenswürdige Lieferkette aufgebaut werden“, so Pflüger – schon angesichts der Fragmentierung der Branche eine Herausforderung.
Es ist ein Henne-Ei-Problem: Weil die Beschaffung schwierig ist, scheuen viele Hersteller von vornherein vor einer Umstellung zurück. Die Recyclingunternehmen interpretieren das als mangelnde Nachfrage und erweitern ihre Kapazitäten nicht. Dadurch sind die Skaleneffekte gering und die Preise höher, als sie sein müssten. Weil es dem Markt lange an Dynamik fehlte, ist überdies die Innovationsbereitschaft vieler Entsorger nicht sonderlich ausgeprägt.
Selbst ein Pionier wie Werner & Mertz (Marke Frosch), der mit Zulieferern langjährige und enge Partnerschaften pflegt, muss gelegentlich Überzeugungsarbeit leisten. „Wir sind Treiber des Markts“, sagt Timothy Glaz, Leiter des Bereichs Corporate Affairs. Seit der Mittelständler begann, seine Verpackungen auf Kunststoff aus dem Gelben Sack umzustellen, ist er in immer neue Dimensionen vorgestoßen: Auf die ersten PET-Flaschen aus Rezyklat (2014) folgten recycelte Flaschen aus Hart-Polyethylen und Verschlüsse aus Alt-Polypropylen. Jüngster Coup ist ein Sprühkopf, der vollständig recycelbar ist und in seinen mechanischen Anteilen fast 30 Prozent Post-Consumer-Rezyklat enthält. Das galt zuvor als technisch nicht umsetzbar.
Bis 2025 sollen bei Werner & Mertz sämtliche Verpackungen recycelt und recyclingfähig sein. Damit werden die Mainzer zu einem Zeitpunkt ein zirkuläres Unternehmen sein, zu dem andere Marken mit der Umstellung erst beginnen. Glaz’ Verständnis für Nachzügler ist begrenzt: „Was wir machen, könnten alle anderen auch tun“, findet er. Nämlich: sich Zeit nehmen, mit Lieferanten sprechen, Expertise aufbauen und „sich mit der Idee anfreunden, etwas mehr Geld auszugeben“. Aber diese Bereitschaft sei häufig nicht vorhanden, sagt er: „Es verfestigt sich der Eindruck, dass es ohne gesetzlichen Rahmen nicht geht.“ Gemeint ist, zum Beispiel, eine Steuer auf den Einsatz von virgin plastic.
„Der gesamte Markt befindet sich im Umbruch“, sagt Harald Lehmann, Niederlassungsleiter bei RePlano in Bochum, das seit mehr als 60 Jahren Kunststoffe recycelt und zum Entsorger Remondis gehört. Sein Augenmerk gilt vor allem der Qualität des Materials. Anfang des Jahres hat Remondis eine neue Anlage in Betrieb genommen, die, wie Lehmann findet, neue Standards in der Vorsortierung von Plastikverpackungen setzt: indem sie zum Beispiel nicht nur Kunststoffarten, sondern auch Farben erkennt und dank künstlicher Intelligenz sogar Silikonkartuschen separiert. Aber wenn, wie neulich, in einem Ballen ausgediente Fischernetze und Auto-Kindersitze versteckt sind, ist Schluss: „Das führt dazu, dass Anlagenteile blockieren.“ Und ein Papierkrieg mit dem Lieferanten beginnt.
Ein krasser Fall, klar. Alltäglicher ist das Problem, dass Anlieferungen ungenau deklariert sind, etwa der Anteil sogenannter Störstoffe wie Glas oder Holz nicht stimmt. Dass sich unter gleichen Bezeichnungen unterschiedliche Qualitäten verbergen. Oder dass Hersteller beim Produktdesign nicht in Kreisläufen denken und zum Beispiel eine PET-Flasche mit einem vollflächigen Etikett aus Polypropylen (PP) versehen, woraufhin die Flasche im PP-Container landet. Alles Gründe, weshalb die Zusammensetzung von Altkunststoffen stärker schwankt als die von Neuplastik. „So etwas möchten wir nicht mehr haben“, sagt Lehmann mit Nachdruck.
Beim Deutschen Institut für Normung (DIN) hat er an der Roadmap Circular Economy mitgeschrieben. Sie definiert die Anforderungen für kreislauffähige Produkte mit dem Ziel, den Markt zuverlässiger und transparenter zu machen. „Über viele Jahre wurden Rezyklate oftmals mit minderen Qualitäten und Downcycling in Verbindung gebracht, wodurch der Einsatz in einigen Branchen stark beschränkt wurde“, heißt es im Abschlussbericht. „Um hier die Wende zur Circular Economy zu schaffen, muss Vertrauen geschaffen werden, wobei eine verlässliche Qualität der Materialien ein zentraler Baustein ist.“ Um das Recycling zu erleichtern, sollen künftig zum Beispiel digitale Produktpässe über Kunststofftypen und Zusatzstoffe informieren. Genau 38 „Normungsbedarfe“ haben Lehmann und seine Kolleg*innen für den Bereich Kunststoffe formuliert.
Mehr Materialsicherheit durch Standards: Ein Anfang ist gemacht
Dass so etwas funktionieren kann, hat Christian Schiller bewiesen. 2018 gründete er Cirplus, eine digitale Handelsplattform für Rezyklate. Mit ihr will er den Einkauf von Rezyklaten insbesondere für Unternehmen erleichtern, die Material aus unterschiedlichen Quellen ordern. Auch hier war das Problem die Spezifikation; dunkelblaues Granulat aus Polen passte nicht zu dunkelblauem Granulat aus den Niederlanden. „Der Markt war total unreguliert“, sagt Schiller. Zusammen mit dem DIN kreierte der Gründer einen Standard für die Datenqualität zur Klassifizierung von Rezyklaten, die DIN SPEC 91446. Das war im November 2021. Inzwischen gehört sie zu den Standards, die am häufigsten heruntergeladen werden, und die Europäische Kommission hat sie in ihren Grundlagen-Kanon für ein europäisches Regelwerk aufgenommen. Das zeigt, wie groß der Bedarf ist. „Aber das kann nur der Anfang sein“, sagt Schiller.
Dabei bleibt für eine Reform des Marktes nicht viel Zeit. Der Druck aus Brüssel wächst – bis 2030 sollen alle Kunststoffverpackungen in Europa wiederverwendbar oder leicht recycelbar sein. Gleichzeitig wird Recycling zunehmend auch in anderen Teilen der Welt als Geschäftsmodell entdeckt.
Den Rohstoff für die Brillengestelle von VIU etwa liefert keine deutsche und auch keine europäische Firma, sondern der US-Konzern Eastman. Der hat nach eigenen Angaben bereits in den 1980er-Jahren eine Technologie entwickelt, mit der sich Altplastik in seine Moleküle zerlegen und wie Neuplastik verarbeiten lässt. Lange lohnte sich der Einsatz nicht, aber „jetzt ist die Zeit dafür gekommen“, sagt Rachel Oakley, Global Eyewear Segment Manager bei Eastman. Seit 2020 wird das Verfahren am Hauptsitz Kingsport (Tennessee) praktiziert. Zugleich investiert Eastman in drei weitere Standorte, einer davon ist in Frankreich nahe Le Havre: Mit einer Kapazität von jährlich rund 160.000 Tonnen entsteht dort die größte Kunststoffrecyclinganlage der Welt.
Zwar verbrauchen chemische Verfahren wie dieses deutlich mehr Energie als das traditionelle mechanische Recycling, sie können jedoch auch verschmutzte und schwierig zu trennende Kunststoffabfälle verarbeiten. Als Beispiele nennt Oakley Teppichböden oder Kunststoff-T-Shirts. „Wir wollen dem mechanischen Recycling keine Konkurrenz machen“, sagt sie. Es klingt nach einer fairen Arbeitsteilung.