Wir schreiben ja gerade das Jahr eins, nachdem ChatGPT in unser aller Leben kam. Ich weiß, Ihr lieben KI-Nerds und Hab-ich-immer-schon-gewusst: ChatGPT gibt es schon viel viel länger. Aber erst am 30. November 2022 wurde die Software auch für Otto und Ottilie Normalverbraucher zugänglich. Und wenn selbst die „Bild“ am 30.11.2023 titelt „So irre plant ChatGPT seinen Geburtstag“ kann es mit dem Datum ja nicht ganz falsch sein (Hüstl, Hüstl, Zwinkersmiley).
Wie also ist der Stand der Dinge bei ChatGPT und KI, wenn es um Work & Culture geht? Schauen wir mal auf ein paar aktuelle Studien und Medienberichte.
“Face-to-Face” mit einer Maschine?
Laut einer vergangene Woche veröffentlichten Studie von Onlyfy by Xing haben 71 Prozent der erwerbstätigen Deutschen noch nie Künstliche Intelligenz bewusst im Bewerbungsprozess benutzt. Zwar lässt sich über das Wort „bewusst“ gerade in diesen Zeiten trefflich streiten, doch ist davon auszugehen, dass bislang wohl tatsächlich die wenigsten Deutschen während einer Bewerbung mit Künstlicher Intelligenz zu tun hatten. Nach dem Geschmack der meisten sollte das – jedenfalls in Teilen – auch künftig so bleiben: Spätestens beim finalen Bewerbungsgespräch wollen laut Studie rund 80 Prozent der Deutschen auch künftig einer echten Person gegenübersitzen.
Geht es an dieser Stelle eigentlich nur mir so oder machen auch Sie vor allem die anderen 20 Prozent stutzig, die offenbar lieber mit einer Maschine als mit einem potentiellen Kollegen oder einer Kollegin sprechen oder denen es zumindest völlig wumpe ist, ob Ihnen ein Mensch oder eine Maschine „Face-to-Face“ gegenübersitzt?
Wieviel Zeit spart Prompten wirklich?
Das „Handelsblatt“ verrät derweil vergangenen Freitag „Wie Recruiter ChatGPT für sich nutzen können“ – und überzeugt mich ehrlicherweise noch nicht wirklich. Der natürlich dennoch absolut lesenswerte Beitrag von Sebastian Hennes führt aus, wie Recruiter mit Hilfe der KI eine individuell angepasste Stellenanzeige und einen individuellen Gesprächsleitfaden erstellen und so „mit ChatGPT Zeit und Mühe sparen“.
Was dann aber folgt, sind zwei detaillierte Promptanleitungen, die mich an der Zeit- und Müheersparnis doch recht ernsthaft zweifeln lassen. Wer Hennes‘ Anleitung Schritt für Schritt ausführt, dürfte allein dafür locker 30 bis 60 Minuten brauchen, die zuvor notwendige Informationsbeschaffung nicht mitgerechnet. Um dann, wir kennen das alle von ChatGPT, zunächst ja nur einen ersten Textentwurf zu bekommen. Für die Feinarbeit empfiehlt Hennen: „Unterhalten Sie sich eine Weile mit dem Chatbot, bis Sie das gewünschte Ergebnis erzielt haben.“ Und schwupp, so meine Erfahrung aus anderen ChatGPT-Tests, geht für „eine Weile“ nochmal einige kostbare Zeit drauf. Klar, man kann mittlerweile auch Prompt Generatoren erstellen, um Anweisungen wie Tonalität, Wording oder Diversity-Vorgaben nicht immer wieder neu zu formulieren. Aber wenn Sie mich fragen, dürfte zumindest im Jahr eins nach ChatGPT Prompten in vielen Unternehmen gerade zu einem neuen Zeitfresser in HR verkommen.
Was springt für uns dabei heraus?
Aber fragen wir nicht mich, fragen wir Profis. Eine davon ist Marie-Hélène Briens-Ware. Sie verantwortet beim französischen Digitaldienstleister Orange Business (Tochter des Mobilfunkkonzerns Orange) den Mircosoft-Copilot-Probelauf. Ganz kurz für alle, denen das nichts sagt: Seit 1. November ist Microsofts KI-Assistent „Copilot für Microsoft 365“ für jedes Unternehmen zu einer Lizenzgebühr von 30 Euro pro Lizenz und Monat verfügbar. Schon seit Juni dürfen rund 100 Unternehmen das Tool im Rahmen einer Pilotphase testen; Organe Business ist eines davon. Et voilà: Nun spricht die französische Copilot-Testerin Briens-Ware über erste Ergebnisse, die die “Süddeutsche Zeitung” in einem Beitrag zusammengefasst hat.
Es sei schön, so Briens-Ware, Teil des Hypes zu sein: „Wir sehen als Unternehmen modern aus. Und die Mitarbeiter sind total happy.“ Allerdings gehe es für Orange Business nicht ums Image. Schon eher müsse Briens-Ware die Frage klären: „Was springt für uns dabei heraus?“ Und dann zitiert die SZ sie mit den bemerkenswerten Sätzen: „Wir sind keine Fabrik, wo man gesparte Zeit direkt in Output umrechnen kann. Selbst wenn alle 300 Testnutzer in der Woche zehn Stunden sparen, hat die Firma noch keinen Cent mehr verdient. Wir entlassen deshalb ja nicht 20 Prozent unserer Leute.“ Nun denn. Böse ist, wer jetzt erneut „Hüstl. Hüstl. Zwinkersmiley“ denkt. Optimist ist, wer jetzt glaubt, dass 20 Prozent Zeitersparnis in Zeiten des Fachkräftemangels perspektivisch gesehen gar keine so schlechte Nachricht ist.
Halluzinationen und ein Glossar des Grauens
Mit absichtlich schlechten Nachrichten versucht sich derweil Pressrelations, ein Anbieter für Medienbeobachtungen, ins Spiel zu bringen. Und prompt bin auch ich auf die Headline der Pressemeldung hereingefallen, die da lautet: „New Work ist grandios gescheitert – Neue Studie zur Zukunft der Arbeitswelt“. Blöd nur, dass die Studie die getroffene Aussage nicht wirklich belegt. Denn Pressrelations hat sich keine Fakten in den Unternehmen angeschaut, sondern binnen zwölf Monaten gezählt, wie oft Begriffe wie „Great Resignation“ und „Big Quit“ in Medienberichten auftauchen.
Das sicherlich korrekte Ergebnis laut Pressrelations: „Sie tauchen überrepräsentiert in 30.817 Online-Artikeln im deutsch- und englischsprachigen Raum auf …“. Das meines Erachtens völlig an den Haaren herbeigezogene Fazit von Pressrelations: „…und stehen für die Unzufriedenheit der Menschen mit den vorherrschenden Bedingungen in der Arbeitswelt.“ Pressrelations erklärt seine Konklusio so: „Diese Begriffe erzählen von einem fundamental anderen Arbeitsverständnis. Je stärker sich dieses Verständnis durchsetzt, desto öfter werden Menschen und Medien diese Begriffe verwenden, um davon zu erzählen… Unsere Studie zeigt: Die von uns getrackten Buzzwords sind die ersten sichtbaren Signale einer radikalen und grundlegenden Transformation der Arbeitswelt.“
Natürlich kann man New Work herzlich gerne kritisieren, man kann auch Medienberichte als Wasserstandsmeldungen nutzen und Pressemeldungen zuspitzen. Aber von der Nennungshäufigkeit einiger Buzzwords auf ein „grandioses Scheitern von New Work“ zu schließen, halte ich persönlich doch für sehr gewagt. Leider entzieht es sich meiner Kenntnis, ob die Pressemeldung von einem Menschen oder einer Maschine verfasst wurde, ob also die Halluzinationen eher digital oder organisch entstanden sind.
Charles Bahr ist gelandet
Zum Schluss auch heute wieder etwas eher Vergnügliches – zumindest für den oberflächlichen Betrachter. Ende vergangener Woche machte ein mittelgroßer Streit zwischen Lufthansa CEO Carsten Spohr und Jungunternehmer Charles Bahr die Medienrunde. Spohr hat Bahr angezeigt und wirft ihm vor, ihn bedroht zu haben. Zuvor soll sich Bahr unter anderem via LinkedIn über Spohrs mangelndes Interesse an seinen treuesten Kunden echauffiert haben. Bahr, bekennender Vielflieger, meint damit ganz offensichtlich sich selbst. Und ich frage mich jetzt völlig erbsenzählerisch, warum ausgerechnet ein 21-jähriger GenZ-Berater und -Versteher, dessen Kundschaft sehr überwiegend im DACH-Raum angesiedelt ist, nicht einfach öfter mal mit dem Zug fährt. Obwohl. Ich gebe zu: Schlechter Zeitpunkt für ausgerechnet diese Frage.
In diesem Sinne: Eine streikfreie Adventszeit ohne größere Halluzinationen – und bleiben Sie gut drauf!