Für Samsung Electronics ist die Internationale Funkausstellung die wichtigste Messe des Jahres. 84 Millionen Kunden zählt man in Europa. 300 Millionen Produkte gehen jährlich in die Alte Welt, der Löwenanteil davon im Weihnachtsgeschäft. Ein Event also, der generalstabsmäßig geplant wird. Renommierte Architekten bauen den oder die Messestände. In diesem Jahr war es Ferruccio Laviani. Die Produktneuheiten, die man auf der Messe zeigt, sind bis kurz vor Toreöffnung zum Teil nicht einmal den deutschen Verantwortlichen bekannt, schließlich ist die IFA auch der Wettkampf der PR-Abteilungen und Agenturen. Die Frage, die alle Aussteller antreibt, lautet: Wer erreicht mit seiner Präsentation die größte mediale Reichweite bei den 6 000 anwesenden Journalisten?
Und doch war in diesem Jahr einiges anders als sonst. Das Buzzword Content-Marketing waberte durch die Medienlandschaft. Zahlreiche Technologieunternehmen waren auf diesen Trend bereits aufgesprungen und hatten ihre Reichweite erfolgreich ausgebaut. Das digitale Magazin „Curved“ von E-Plus gilt dabei immer wieder als Leuchtturm, an dem man sich orientiert. Siemens hat mit viel Getöse einen Newsroom installiert, Media-Saturn kombiniert bei „Turn on“ sein Kundenmagazin mit einem Youtube-Format.
Da Samsung also keineswegs zu den Trendsettern in diesem Segment gehörte, erdachte man eine neue Evolutionsstufe, das Echtzeit-Content-Marketing. Angesichts klassischer PR- und Marketingabläufe in Unternehmen ist das für viele zunächst ein Widerspruch in sich. Aufwendige Freigabeprozesse, viele beteiligte Stakeholder und detailverliebte Produktionsmethoden bringen zwar Qualität, kosten aber auch jede Menge Zeit. Die Chance, auf äußere Umstände mit Marketingkommunikation reagieren zu können, bot sich bislang vor allem den Social-Media-Teams. Hier aber eben nur mit Kurzformaten – snackable Content. Ziel der Kampagne war vor allem, den Content-Hub mit Traffic zu beliefern. 20 000 Besucher pro Tag sollten es schon sein. Das Ziel wurde übererfüllt. Bis zu 54 000 Besucher durchschnittlich sahen sich die Website an. Die von Starcom gemessene Verweildauer betrug im Schnitt 3,8 Minuten. Das ist nicht schlecht für eine Markenwebsite, für redaktionellen Content ist es allerdings auch nicht besonders gut. Das komplette Lesen eines einzelnen Artikels dürfte länger dauern. Dennoch zeigt man sich bei Starcom zufrieden. Projektleiter Boris Meixner analysiert: „Wir haben geholfen, einen Content Hub bei Samsung zu etablieren, der nun für den Rest des Jahres weiter genutzt werden kann.“
Mit heißer Nadel
Die Content-Idee, um deren Urheberschaft sich Leo Burnett und Samsung uneins sind, brachte das Marketinggebälk des Weltkonzerns gewaltig zum Knarzen. Es war klar, dass Samsung selbst dafür kaum Ressourcen zur Verfügung hat. So musste man also den Produktionsbeteiligten aus dem Hause Leo Burnett und von der Mediaagentur Starcom weitgehende Freiheiten einräumen, sonst wäre der Echtzeitansatz nicht zu stemmen gewesen. Mehr noch: Im Herzen des Konzepts standen mit Stefan Tappert – früher CvD bei Bild.de – ein freier Journalist und mit Julian Frigger ein Techblogger, der sich in der Vergangenheit durchaus auch schon kritisch gegenüber Samsung geäußert hatte. Auch diese beiden „Unberechenbaren“ sollte man also unter dem offiziellen Samsung-Logo von der Leine lassen?
Die Diskussionen im Haus müssen hitzig gewesen sein. Techblogger Julian Frigger berichtet, er habe erst zwei Wochen vor der Funkausstellung erfahren, dass das Projekt wirklich startet, und dass es mit ihm startet. „Das war schon mit heißer Nadel gestrickt“, so der Schwabe, „vermutlich haben die sich Sorgen um die Qualität gemacht.“ Der Projektleiter Giuseppe Fiordispina, Senior Communications Manager bei Samsung Electronics, formuliert das so: „Die IFA hat sich als geeigneter Moment erwiesen, weil alle Entscheidungsträger vor Ort und die kurzen Wege dadurch möglich waren.“
Telefon und Whatsapp statt Meetings
Techfokus (später Tech Hyve), wie sich der Blogger Julian Frigge online nennt, wurde von IDG gekauft. Er besaß umfassende Erfahrung bei der Liveberichterstattung von Messen, denn das war Kern seines früheren Konzepts. Und Frigger hat derzeit kein eigenes Projekt. Dem potenziellen Chaos und den Sorgen des Kunden begegnete Leo Burnett mit einer umfangreichen Content-Matrix. Darin verzeichnet waren vor allem die Aktivitäten der verschiedenen auf der IFA anwesenden Abteilungen. Jeder wollte sich angemessen präsentiert sehen, schließlich sollten die jeweiligen Verticals auch aus eigenem Marketingbudget zum Projekt beitragen. „Die Matrix war das Herzstück unserer Arbeit, ohne sie hätte das nicht funktioniert“, sagt Frigger.
Dank des Themenplans konnten die Beteiligten im Vorfeld bereits erkennen, welche Themen wann spannend werden würden. Gemeinsam mit Stefan Tappert und den Agenturvertretern analysierte Frigger, welche Inhalte auch bereits im Vorfeld produziert werden konnten. „Es gab zum Beispiel eine Waschmaschine, die zwar vor einem halben Jahr auf den Markt gekommen war, aber immer noch aktuell ist. Dazu konnte ich einen Beitrag vorproduzieren“, sagt der Blogger.
Zum Konzept gehörte neben dem Themenplan auch das Grundgerüst der täglichen Arbeit während der Messe. Um halb neun Uhr war das Morgenmeeting angesetzt. Hier präsentierten Mitarbeiter von Starcom und vom Social- Media-Team von Leo Burnett die Daten aus der Webanalyse und dem Social Media Monitoring. Welche Themen waren am Vortag gut gelaufen, was waren die Trending Topics? Mit diesem Themengerüst, kombiniert mit den anstehenden Liveereignissen des Tages, wurde der Tagesredaktionsplan erdacht, und man war rechtzeitig fertig, um erste Videoaufnahmen zu machen, noch bevor die Messehallen fürs Publikum geöffnet waren.
Das jedoch erwies sich als Fehlplanung. „Es zeigte sich schnell, dass Videoaufnahmen viel besser wirken, wenn auch Publikum im Bild zu sehen ist“, sagt Frigger. „Außerdem waren auch einige wichtige Ansprechpartner um neun noch nicht am Stand.“ Auch der ursprünglich vorgesehene redaktionelle Freigabeprozess erwies sich als zu träge. „Da habe ich sofort die Hand gehoben“, so der Blogger. „Wenn wir so weiter gemacht hätten, hätten wir nicht mal die Hälfte geschafft“.
Im Verlauf der sechstägigen Messe wurde aus dem einstündig geplanten Morgenbriefing mitunter ein 15-minütiges Kaffeetrinken nebst Besprechung. Und auch das geplante Mittagsmeeting wurde geopfert. „Stefan und ich waren oft an unterschiedlichen Enden des Messegeländes unterwegs, da hätten wir eine Stunde Zeit verloren, um zum Meeting und wieder zurück zu kommen.“ Stattdessen kommunizierten die beiden Content-Erzeuger per Telefon und Whatsapp. Tappert konzentrierte sich vor allem auf die Produktion der Videos, Frigger nahm den Fotografen Andreas Schmidt mit auf die Tour.
Balance zwischen Inhalt und Werbung
Für Frigger und Tappert stellte sich die Frage: Was produzieren wir und vor allem in welcher Form? Die notwendige Produktionsgeschwindigkeit begrenzte freilich die qualitativen Möglichkeiten. Die meisten der 25 Videos zeigen einen klassischen Messerundgang oder die Vorstellung einzelner Produkte wie etwa die der Smartwatch Gear S2. Kamerawackler und kleinere Störungen aus dem Umfeld des Messestandes wurden in Kauf genommen. Davon abweichend zeigt Samsung auch eine Handvoll Videos, in denen Kinder in bester „Dingsda“-Manier unterschiedliche Buzzthemen erklären. Vom Internet of Things bis zur VR-Brille. Diese Videos wurden bereits vorproduziert und standen zur Messe abrufbereit zur Verfügung.
Eine kleine journalistische Perle unter den Videos ist ein Kurzinterview mit dem bekannten Techblogger Sascha Pallenberg. Bezeichnenderweise hat das Video aber nur knapp 8 000 Betrachter erreicht. Das überrascht, denn allein auf seinem Youtube-Kanal Mobile Geeks hat Pallenberg 150 000 Abonnenten. Möglicherweise hat das damit zu tun, dass die IFA-Zielgruppe für Samsung eine andere war als die, die üblicherweise Techblogs liest oder Geek-Videos anschaut. Tatsächlich war man sich bei Samsung keineswegs sicher, wie man die Zielgruppe richtig ansprechen sollte. Also bat man Julian Frigger, im Vorfeld einen Text zu produzieren, um seinen Stil kennenzulernen. „Ich war überrascht, dass sie den lockeren Stil durchgehen ließen“, berichtet der Blogger.
Dabei haben Alexander Wipf und Leo Burnett kräftig mitgeholfen. „Wir haben Headlines kreiert, die eher im Stile einer „Bild“-Zeitung oder anderer Medien sind. Auch in der Sprache haben wir versucht, direkter zu werden“, sagt Wipf. Von Leo Burnett kam auch das Team, das Social Media bespielte. Auf diesem Kanal geht es allerdings bis heute im Wesentlichen um Produkte. Den Kampf um die richtige Balance aus Werbung und Content kann man regelrecht spüren, wenn man den Content-Hub „Entdecken“ aufruft. Im direkten Umfeld der Produkte ist es simpel. Da werden außer Produktbeschreibungen auch Tipps und Tricks inszeniert oder eine schöne Galerie von Bildern, die eben mit Samsung-Kameras aufgenommen wurden.
Der Hub kann und soll aber mehr. Er soll einen weiteren Horizont des digitalen Lebensstils abbilden. Da wird zum Beispiel die Balletttänzerin Adrienne Canterna interviewt, die klassische Tanzformen mit Rockelementen kombiniert. Das Interview selbst gelingt solide, und der Kunde kommt ins Spiel, als die Künstlerin einen Samsung-Kopfhörer aufsetzt und die Vorzüge des drahtlosen Musikhörens beim Tanzen preist.
Selbst die Präsentation eines Kunstprojekts – der virtuelle Fortsetzungsroman „Zwirbler“ von Gergely Teglasy – darf nicht für sich allein stehen. Er wird angekündigt mit den Worten: „Das Leseverhalten ändert sich gerade grundlegend, daher wurde ‚Zwirbler‘ auch als eBook veröffentlicht. Ein Smartphone mit großem Display wie das Galaxy S6 edge+ ist eine interessante Alternative zum Reader, weil man nur ein Gerät braucht.“ Da muss sich die Balance erst noch finden.
Eleganter gelingt das bei einem Artikel über technische Gadgets. Hier wird die Samsung-VR-Brille geschickt unter andere spannende Innovationen gemischt. Das wirkt organischer. Doch tatsächlich scheint keine Geschichte den Weg auf die Plattform zu finden, die Samsung oder ein Produkt nicht irgendwie erwähnt. Da ist der Gedanke Content-Marketing noch nicht zu Ende gedacht.
Die Strategie zur IFA war durchaus ausgereift. Im Vorfeld wurden die Analytics-Instrumente so konfiguriert, dass man nicht nur in der Lage war, die Samsung-eigenen Inhalte zu finden und zu analysieren, sondern auch das, was über den Wettbewerb berichtet wurde und welche allgemeinen Themen das Publikum aufgriff. Dazu wurden nicht nur Onlinekanäle ausgewertet, sondern auch das redaktionelle Geschehen in der Presse. Vor allem Wettbewerber LG wurde genauestens beobachtet, schließlich konkurriert man direkt mit deren OLED-Technologie. Und zudem wurde LG die Ehre zuteil, dieses Jahr eine Eröffnungskeynote auf der IFA zu halten. „Wir haben geschaut, was die Wettbewerber machen, und wenn etwa das Thema 4K-Fernsehen besonders nachgefragt war, haben wir versucht, den Traffic, der da entstanden ist, durch unsere Inhalte ein Stück weit zu uns zu lenken“, erklärt Alexander Wipf.
Bei diesen Ablenkungsversuchen spielte Google Adwords die entscheidende Rolle. Immer dann, wenn zum Beispiel eine wichtige Pressekonferenz eines Wettbewerbers stattfand, erhöhte Starcom den Werbedruck bei Google zu den jeweils spannenden Keywords. Insgesamt gab man 65 Prozent des Mediabudgets – über dessen Höhe sich Samsung ausschweigt – für Search Engine Marketing aus und sammelte damit 43 Prozent der Klicks ein. „Search zu stärken zu Zeitpunkten, wenn Wettbewerber Vorträge oder Seminare hielten, erzeugte deutliche Trafficspitzen. Nicht nur direkt während des Ereignisses, sondern noch Stunden später“, erläutert Meixner.
Deutlich effizienter funktionierten aber zwei andere Kanäle. Da wäre zum einen Social Media. Bei Facebook – Twitter und Instagram wurden zwar von Leo Burnett vorgeschlagen, aber letztlich nicht eingesetzt – gab Starcom acht Prozent des Budgets aus, sammelte aber satte 26 Prozent der Klicks ein. Freilich müssen die Kosten der redaktionellen Arbeit auf Facebook dem Klick-Ertrag noch gegengerechnet werden.
Der Lieblingskanal für Starcom dürfte allerdings ein anderer gewesen sein. Die Rede ist von Outbrain. Das Native-Advertising-System wird in redaktionelle Seiten integriert und schlägt dem Leser eines Texts passende weitere redaktionelle Artikel vor. Es handelt sich also um ein Empfehlungssystem für redaktionelle Inhalte. Dort gab Starcom sieben Prozent des Budgets aus und erntete 21 Prozent der Klicks sowie gute 16 Prozent des messbaren Engagements. Hier sind die Zahlen allerdings etwas unscharf, weil Facebook keine Werte zur Verfügung stellt.
Die bedeutsamste Erfahrung: Motivation
Samsung, Starcom und Leo Burnett freuen sich über einen gelungenen IFA-Auftritt. Insgesamt wurden gemeinsam 60 Content-Stücke produziert, wobei die Videos die meiste Aufmerksamkeit erzeugten. Glaubt man Google Trends, dann ist Samsung die einzige Marke, die gemeinsam mit dem Suchbegriff IFA bei Google in signifikantem Umfang gesucht wurde. Und auch unter den 50 meistgesehenen Youtube-Videos während der Funkausstellung finden sich immerhin zwei Filme zu Samsung-Produkten. Mitten zwischen Minecraft-Filmen und den so reichweitenstarken Videos der Beauty-Bloggerinnen. Allerdings war nur einer der beiden Filme von Samsung selbst, genauer zum Galaxy S6 Edge+. Alexander Wipf sieht aber noch einen ganz anderen Maßstab für den Erfolg der Aktion: „Die Stimmung im Team ist ein wichtiger Gradmesser für den Erfolg. Es steckt schon ein gewisses Risiko darin und erfordert Mut von einer prozessualen Marketingorganisation, die jede Message prüft, jeden Schritt und jeden Insight hin zu einer sehr schnellen Agenda zu tun. Es war spannend zu sehen, wie das Team das klassische Marketing immer wieder herausgefordert hat. Natürlich messen wir auch Standard-KPI, aber das wichtigste Learning liegt, glaube ich, in der Motivation der Beteiligten.“
Auch Techblogger Julian Frigger hat die Aktion Spaß gemacht. Sein persönliches Highlight der IFA ist, dass Samsung mit anderen Herstellern – unter anderem dem ewigen Konkurrenten Apple – zusammenarbeitet, wenn es um das „Smart Home“ geht. Kritik hat Frigger kaum. Nur gelegentlich sei es vorgekommen, dass man den Ansprechpartner für ein Thema nicht fand oder ein zu besprechendes Produkt nicht zu bekommen war. Dann ging der Umweg über die Pressestelle, und diese Koordination „sollte man beim nächsten Mal noch besser abstimmen“.
Die Story Echtzeit-Content-Marketing geht weiter. Allerdings docken die letzten Geschichten auf dem Content- Hub weniger an aktuellen Ereignissen an. Auch das muss sich einspielen. Wie viel Energie Samsung dort hineinstecken wird, steht noch nicht fest. Fiordispina ist vorsichtig: „Für uns wurde das Realtime-Content-Projekt wie ein „klassiches“ Projekt behandelt, mit einer Taskforce aus den unterschiedlichen Spezialisten intern wie auch auf Agenturseite. Diese Taskforce hat alles koordiniert und umgesetzt.“
Ob Samsung mit dieser Aktion tatsächlich die klassischen Ziele des Content-Marketings erreicht, nämlich auf Dauer mehr direkten Traffic in Richtung Content-Hub zu lenken, das muss sich noch zeigen. Suchmaschinenprofi Jens Fauldrath analysierte mit seiner Agentur Takevalue das Umfeld und stellte fest, dass Samsung als Brand-Keyword kaum gewonnen hat. Und produktbezogene Suchen landen eben direkt im harten Wettbewerbsumfeld der Preisvergleicher und Onlinehändler. Außer bei Suchen nach der Marke selbst hat die Samsung-Website im organischen Index von Google bisher keine Bedeutung. Mal sehen, ob Echtzeit-Content- Marketing das ändern kann.