Für die einen war es ein Eklat, für die anderen ein Riesenspaß: Als im Sommer vergangenen Jahres Punks die Promi-Insel Sylt belagerten, sorgte dies für großes Aufsehen. Nicht nur, dass die untypischen Sylt-Besucher*innen sich damit gegenüber einer Initiative der Bundesregierung sehr aufgeschlossen zeigten und das 9-Euro-Ticket als Teil des Energie-Entlastungspaketes dankend annahmen, auch in der Verpflegungsfrage zeigten sich die Punks kreativ. Statt Kisten durch volle Züge zu schleppen, bestellte man sich das Bier online und ließ es an eine Packstation in der Nähe liefern. Auch wenn dies den Umsatzrückgang im E-Commerce in Deutschland insgesamt nicht aufhalten konnte, zeigt es doch die Möglichkeiten, die Digitalisierung und Mobilität mittlerweile bieten. Eine Convenience, die es so vorher noch nie gab.
Seit der Corona-Pandemie macht in diesem Zusammenhang insbesondere ein Schlagwort die Runde: „Quick Commerce“. Ein Trend, der gekommen ist, um zu bleiben. Zwar fehlt noch eine einheitliche Definition, aber im Allgemeinen versteht man darunter Lieferungen, die in weniger als einer Stunde erfolgen. Lieferdienste wie Gorillas, Flink oder Getir versprechen in Großstädten Lebensmittellieferungen innerhalb von Minuten und prägen damit diesen neuen Begriff.
Aufgrund dieser enormen Geschwindigkeit sind die Liefergebiete in der Regel räumlich eng begrenzt – meist wird dieser Service nur in Stadtzentren angeboten und das auch nur für ganz bestimmte Produkte. Insbesondere Lebensmittel sind für den Quick-Commerce prädestiniert.
Anders als bei Lieferungen in einem Zeitfenster oder „Same-Day-Delivery“ ist Quick Commerce schneller. Ausgeliefert wird meist per E-Bike oder Fahrrad. So können auch im dicksten innerstädtischen Verkehr die extrem kurzen Lieferzeiten eingehalten werden. Bezahlt wird üblicherweise über die Smartphone-App des Anbieters.
Hohe Erwartungen, starker Wettbewerb
„Quick Commerce zeigt die Potenziale einer mobile- und smartphone-getriebenen Shopping-Welt auf und kann da punkten, wo andere zu lange brauchen“, sagt Branchenanalyst und K5-Initiator Jochen Krisch. Aus Sicht des E-Commerce-Experten ist Quick Commerce eine Option für die Ballungszentren.
Laut einer aktuellen EHI-Studie ist der Wettbewerbsdruck der Händler untereinander der wichtigste Beweggrund für schnelle Lieferzeiten. Auch um Retouren zu vermeiden und die Anzahl der Rücksendungen zu vermindern, liefern Händler heutzutage so schnell wie möglich aus. Hinzu kommt das Ziel des Onlinehandels, ebenso schnelle Lieferzeiten anzubieten wie im stationären Handel, wo die Kundschaft die Ware sofort mitnehmen kann. Bei Gütern des täglichen Bedarfs wünschen sich die Kund*innen der Studie zufolge ohnehin, die Ware möglichst schnell zu erhalten (je 32 Prozent).
Raum für Experimente: Tannenbäume frei Haus
Nach Einschätzung des EHI-Experten Andreas Kruse, Director Business Development Logistik und Verpackung am EHI Retail Institute in Köln, wird der Wettbewerbsdruck hoch bleiben und weiter als Differenzierungselement die Anbieter im (Food-)E-Commerce auf Trab halten. „Erst wenn der Kunde die schnellen bis extrem schnellen Lieferzeiten so normal findet, dass es keinen Unterschied mehr macht, wo man seine Bestellungen und Einkäufe tätigt, wird der Druck auf die Lieferzeiten vermutlich etwas nachlassen.“
Aus Sicht des Experten ist das Quick-Commerce-Thema ein Nischenangebot, das aber gleichzeitig ein geeignetes Feld zum Experimentieren ist: Anbieter können auf diese Weise ihre Leistungen skalieren und gleichzeitig herausfiltern, für welche Artikel dies besonders stark nachgefragt wird. Und genau das tun die Schnell-Lieferer auch. Zum Beispiel lieferte der 2014 in Finnland gegründete Lieferdienst Wolt in Berlin zu Weihnachten 2022 sogar Tannenbäume aus und arbeitete dazu mit einem lokalen Anbieter zusammen. Auch passende Ständer und Lichterketten wurden auf Wunsch mitgeliefert.
Doch Quick Commerce stellt hohe Anforderungen an die Händler. Schnellere Lieferzeiten bedeuten meist auch mehr Personal, mehr Fahrzeuge, mehr Kosten. Es stellt sich die Frage, wie viel Geschwindigkeit und Mobilität sich der Onlinehandel leisten kann. „Letztlich ist es eine Frage der Auslastung. Schnelligkeit ist ja kein Selbstzweck“, sagt Krisch. Für die Kund*innen stehe Bequemlichkeit im Vordergrund. „Solange die gegeben ist und für entsprechend hohe Nachfrage sorgt, trägt es sich auch.“
Der Markt konsolidiert sich
Damit die Hochgeschwindigkeits-Vertriebskonzepte funktionieren, ist eine gewisse logistische Infrastruktur nötig, die in Ballungsräumen am besten etabliert werden kann. Dazu werden in der Regel mobile oder stationäre Sammelpunkte – so genannte Microhubs – für die Bestellungen eingerichtet, von wo aus die Pakete mit E-Bike & Co. schnell und emissionsarm in der umliegenden Wohngegend weiterverteilt werden können. Dort wo sie langfristig funktionieren, ergänzen sie das logistische Netzwerk in Richtung Innenstadtbelieferung.
Doch selbstverständlich ist diese Entwicklung nicht. Während der Markt zu Corona-Zeiten einen enormen Boom erlebte und die Anbieter mit Geld von ihren Kapitalgebern überschüttet wurden, hat sich die Lage mittlerweile geändert. Der Markt konsolidiert sich. Bereits im Dezember 2021 erklärte beispielsweise Delivery Hero das endgültige Aus für seine Marke Foodpanda in Deutschland, im Sommer vergangenen Jahres wurde Wolt vom US-amerikanischen Lieferdienst DoorDash übernommen. Ende 2022 wurde dann bekannt, dass die österreichische Flink-Tochter pleite ist und die in deutschen Großstädten omnipräsenten Gorillas vom türkischen Wettbewerber Getir übernommen werden. Viele Unternehmen haben zuvor Mitarbeiter entlassen und sich aus bestimmten europäischen Märkten zurückgezogen.
Quo Vadis Q-Commerce?
„Die größte Herausforderung ist der Kapitalbedarf, um entsprechende Strukturen zu etablieren. Am Ende steht und fällt es jedoch mit den Geschäftsmodellen“, sagt Krisch. Die Entwicklung bleibt somit spannend. Und wie bei fast jedem Trend setzt auch hier bereits ein Gegentrend ein. So bietet der Onlinehändler Galaxus explizit die Versandoption „langsamere Lieferung“ an, um seine Logistik-Crew speziell montags sowie abends zu entlasten. Bei den Kund*innen kommt die „Schneckenpost“ sehr gut an. In Deutschland wird diese Lieferoption für 17,6 Prozent der Bestellungen ausgewählt, in der Schweiz beträgt die Quote 14,5 Prozent – und in Österreich sogar 25,8 Prozent. „Die hohen Quoten freuen uns enorm. Wir sind bin beeindruckt, wie entspannt unsere Kundschaft auf Galaxus unterwegs ist“, sagt Steffen Beniers, Logistik-Chef von Galaxus Deutschland. Auch das Alter spielt für die gewünschte Liefergeschwindigkeit eine Rolle: von den 18- bis 24-Jährigen lassen nur zehn Prozent ihre Bestellungen langsamer liefern, bei den 55- bis 64-Jährigen ist die Quote fast doppelt so hoch.
Nicht nur die Kundenzufriedenheit wird mit dieser Option verbessert, sie zahlt auch positiv auf das Employer Branding ein: Bei den Angestellten des Onlinehändlers kommt die langsamere Lieferung sehr gut an. In einer spontanen Umfrage im Logistikzentrum Krefeld sagten 60 Prozent der Logistiker*innen, dass sie merken, dass nicht ganz so viel Druck auf den Montagen herrscht wie früher. Allerdings ist das Ergebnis mit Vorsicht zu genießen, da viele gar nicht wissen wie es „früher“ war, denn die Galaxus-Belegschaft hat sich in den letzten Monaten fast verdoppelt. Logistik-Chef Beniers erwartet, dass der Trend dahin geht, dass alle Bedürfnisse abgedeckt werden müssen, nicht nur einzelne. „Ich glaube, dass die Kundschaft es schon bald gewohnt sein wird, aussuchen zu können, wann genau ihr Paket eintrifft. Wenn sehr differenziert zwischen ‚Same Day‘ und ‚Langsame Lieferung‘ ausgewählt werden kann, ist vermutlich allen geholfen.“