Herr Professor Esch, nutzen Unternehmen die Chancen der Digitalisierung angemessen?
FRANZ-RUDOLF ESCH: Das Thema Digitalisierung liegt auf den Schreibtischen der Marketing-Entscheider mit höchster Priorität. Doch die Potenziale nutzen sie nicht vollständig aus. Insgesamt haben sie knapp die Hälfte des Weges der digitalen Transformation geschafft, stehen aber noch vor einer ganzen Reihe an Herausforderungen, die es zu lösen gilt.
In erster Linie umtreibt die Unternehmen die Steuerung der scheinbaren Unordnung und Komplexität in den digitalen Kanälen und das Verständnis der Kundenreise. So bieten diese Kanäle enormes Potenzial, den Kunden zielgenau anzusprechen und mehr über sein Nutzungsverhalten zu erfahren. Doch den digitalen Kunden zu kennen, bedeutet mehr: die Kundenreise ganzheitlich zu verstehen – online wie offline. Allerdings ist es um die tatsächliche Kenntnis der Customer Journey in den Unternehmen schlecht bestellt. Darüber hinaus sind sich die Marketers einig: Die interne Kultur ist entscheidend zum Meistern der digitalen Herausforderungen. Langsame Prozesse und ausgeprägtes Hierarchiedenken bremst die Manager zusätzlich auf ihrem Weg der digitalen Transformation aus.
Welche Branchen gehören zu den Vorreitern?
Insgesamt können die Manager ihren Status der Digitalisierung nur schwer einschätzen. Beim Vergleich mit den digitalen Playern sehen sich die meisten im Hintertreffen, im eigenen Branchenvergleich wächst das Selbstbewusstsein. Es reicht aber nur zur Selbsteinschätzung einer soliden Nummer Zwei-Position. Die Mehrheit lotet vorsichtig das neue Feld aus. Wenn, dann sehen sich digital affine Branchen wie IKT- oder E-Commerce als Vorreiter. Doch die volle Zuordnung der digitalen Vorreiterrolle schreiben sie sich nicht zu. Denn Richtung, Geschwindigkeit und Raum des Möglichen geben andere vor: die digitalen Pure Player Google, Apple, Facebook oder Amazon.
Sind die Kunden digitaler als die Unternehmen?
Die Kundenerwartungen haben sich durch die Digitalisierung geändert. Geprägt werden diese von dem verfügbaren technischen Angebot und den Erfahrungen mit den digitalen Vorreitern, den Pure Playern. Diese kultivieren die Erwartungen und setzen in Sachen Schnelligkeit, Usability und Einfachheit Standards – auch für andere Branchen. Die Kunden sind somit nicht zwangsläufig digitaler als alle Unternehmen. Hier gilt ein differenzierter Vergleich: Die Mehrheit der Unternehmen hinkt den Vorreitern hinterher, welche den digitalen Kunden herangezogen haben. Diesen Kundenerwartungen und der Kultur des „Jetzt und Sofort“ versuchen die meisten Unternehmen gerecht zu werden und das stellt sie vor enorme Herausforderungen.
Muss sich Markenidentität in digitalen Zeiten verändern?
Die Grundprinzipien der Markenführung und die Bedeutung des strategischen Geräts haben sich durch die Digitalisierung nicht geändert. Die Markenidentität dient zum einen der Differenzierung in transparenten und vergleichbaren Märkten und ist zum anderen ein wichtiger Vertrauensanker. Selbstähnlichkeit und Konstanz über Zeiträume und Kontaktpunkte hinweg zu wahren, ist wichtig. Nur so können die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Marke dauerhaft gefestigt werden.
Genauso braucht es aber eine kontinuierliche Entwicklung und Reflexion der Marke auf Aktualität – doch nicht zu Lasten des Markenkerns. Die Markenidentität aufgrund neuer digitaler Trends über Bord zu werfen, darf nicht der Weg der Wahl sein. Es geht somit um eine intelligente Nutzung der digitalen Möglichkeiten und eine Übersetzung der Markenwerte in die digitale Welt. Hierzu ist es unerlässlich, genau zu wissen, für was man steht und stehen möchte.
Prof. Dr. Franz-Rudolf Esch ist Direktor des Instituts für Marken- und Kommunikationsforschung an der EBS Business School und Gründer von ESCH. The Brand Consultants. Er ist Referent auf dem Marken-Gipfel am 15. März 2016 in Düsseldorf.