Der deutsche Mittelstand im Textilsektor steht vor einer existenziellen Herausforderung: Die Konkurrenz wächst vor allem durch internationale Fast-Fashion-Giganten, gleichzeitig rutschen traditionelle Marken immer weiter in die Irrelevanz ab. Die hessische Kleinstadt Obertshausen, einst das Zentrum der deutschen Lederwarenindustrie, ist Sinnbild für diesen Wandel. Hier hat Picard seinen Ursprung – eine Marke, die für handgefertigte Ledertaschen und traditionsreiche Handwerkskunst steht.
Doch Tradition allein reicht heute nicht mehr aus. Der Einzelhandel steckt in der Krise, Online-Marktplätze wie Amazon dominieren den Vertrieb, und Fast-Fashion-Plattformen wie Shein und Temu drängen mit aggressiven Preismodellen in den Markt. Der Taschenhersteller Picard stand vor der Wahl: Den Wandel gestalten oder abgehängt werden. So durchlief die Marke ein Rebranding mit einer klaren Markenstrategie, digitalem Fokus und kontrollierten Vertriebskanälen. Eine zwangsläufige Maßnahme, die auch andere deutsche Marken durchlaufen müssen, wenn sie nicht an Relevanz verlieren wollen.
Warum Picard sich neu aufstellen musste
Noch vor wenigen Jahren war Picard stark vom stationären Einzelhandel abhängig. Besonders der Umsatz mit Galeria Kaufhof war ein wichtiger Pfeiler des Geschäfts. Doch mit der Insolvenz der Kaufhauskette begann ein massiver Einbruch. „30 Prozent der Häuser schließen oder haben bereits geschlossen, zudem haben innerhalb der letzten 7-8 Jahre mindestens die Hälfte der stationären Einzelhändler im Taschenbereich in Deutschland geschlossen – das ist ein enormer Umsatzverlust, den wir nicht einfach kompensieren können“, sagt Georg Picard.

Gleichzeitig wuchs die Abhängigkeit von Online-Marktplätzen. Amazon, Zalando und Co. wurden für Picard immer wichtiger – doch die Marke hatte kaum Kontrolle darüber, wie ihre Produkte dort verkauft wurden. Händler unterboten sich gegenseitig, der Preisverfall war nicht mehr zu stoppen. Das Markenimage drohte zu erodieren. „Wir haben in der Vergangenheit festgestellt: Wir werden bezüglich der Produktdarstellung zerrieben. Wir hatten keinerlei Kontrolle“, so der Geschäftsführer. So ist der Umsatz im vergangenen Jahr um sieben Prozent zurückgegangen, für das aktuelle Jahr bis Ende September wird mit Pari gerechnet, für 2026 wieder mit zehn Prozent Wachstum.
Die Transformation: Picard erfindet sich neu
Der Handlungsdruck war groß. 2015 begann Picard, seine Marke strategisch neu auszurichten. Der Fokus lag auf mehr Eigenvertrieb, einer stärkeren Kontrolle über die Marke und einer gezielten digitalen Präsenz.
Der erste Schritt war der Ausbau des eigenen Onlineshops. Seit 2011 gab es eine Website mit Warenkorb – doch erst mit einer neuen E-Commerce-Strategie und gezielten Investitionen in SEO, Usability und digitale Werbung wurde der Shop zu einem ernstzunehmenden Vertriebskanal. Das Ergebnis waren jährliche Steigerungsraten von 50 bis 60 Prozent.
Gleichzeitig begann Picard, sich auf Amazon als eigene Brand zu positionieren. Anstatt Produkte unkontrolliert über Händler vertreiben zu lassen, schuf Picard eine exklusive Brand Page auf Amazon. „Wir wollten die Kontrolle über unsere Produktdarstellung zurückgewinnen“, erklärt der Chef. „Dadurch konnten wir den durchschnittlichen Warenkorbwert um über 30 Prozent steigern.“
Ein weiterer entscheidender Schritt war das Rebranding im Jahr 2024. Die Marke sollte nicht mehr als mittleres Preissegment wahrgenommen werden, sondern als Light-Premium-Alternative. Dafür wurden mehrere Aspekte der Markenkommunikation überarbeitet. Das visuelle Erscheinungsbild wurde modernisiert, das Logo neu gestaltet und die gesamte Bildsprache professioneller ausgerichtet. Auch die Zielgruppenansprache wurde präziser definiert. Picard fokussiert sich nun verstärkt auf kaufkräftige Kunden im Alter zwischen 40 und 60 Jahren, die eine hohe Markenloyalität zeigen.
Auch in der Produktdarstellung gab es Veränderungen. KI-generierte Modelbilder wurden aus den Online-Kanälen entfernt und durch authentische Inszenierungen ersetzt, die die Wertigkeit der Taschen stärker hervorheben. Besonders das Influencer Marketing spielte dabei eine zentrale Rolle. Zu Beginn testete Picard eine Vielzahl an Social-Media-Maßnahmen, doch nicht alle Kooperationen brachten den gewünschten Erfolg.

„Viele Agenturen liefern Standard-Konzepte. Wir wollten authentische Markenbotschafter, die wirklich zu uns passen“, sagt Georg Picard. Inzwischen arbeitet das Unternehmen mit wenigen, aber gezielt ausgewählten Influencern zusammen, die das Markenimage glaubwürdig transportieren.
Das Problem mit der Nachhaltigkeit
Die wachsende Konkurrenz durch internationale Fast-Fashion-Marken zwingt Picard dazu, wettbewerbsfähig zu bleiben. Wegen des steigenden Kostendrucks findet ein Großteil der Produktion in Bangladesch statt. Doch diese Entscheidung wirft immer wieder kritische Fragen auf. Wie nachhaltig kann eine Marke sein, die in Asien produziert? Picard argumentiert pragmatisch: „Leder ist ein Abfallprodukt. Die Alternative? Plastik, also Erdöl-basiertes Marterial. Und das ist sicher nicht nachhaltiger.“
Der Geschäftsführer betont, dass es sich an internationale Standards wie die Leather Working Group (LWG) hält und in eine eigene Gerberei mit zertifizierter Wasseraufbereitung investiert hat. Gleichzeitig verweist er darauf, dass sich die Löhne vor Ort an den Lebenshaltungskosten orientieren.
Viele internationale Unternehmen rechtfertigen die niedrigen Löhne in Bangladesch mit den geringen Lebenshaltungskosten. Doch tatsächlich verstärken diese niedrigen Löhne den Teufelskreis aus geringer Kaufkraft und niedrigen Preisen, wodurch sich die wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Höhere Löhne könnten hingegen die Nachfrage nach besseren Lebensbedingungen und hochwertigeren Produkten steigern, was langfristig zu einem stabileren Wirtschaftswachstum führen würde.
Um diesem Widerspruch zu begegnen, soll das Joint-Venture Picard Bangladesh International Limited für bessere Arbeitsbedingungen sorgen und höhere Standards als viele andere lokale Produzenten bieten. Das Unternehmen hebt hervor, dass es regelmäßige Audits durchführen lässt, um faire Löhne und sichere Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Doch die Frage bleibt: Reichen diese Maßnahmen aus, um die strukturellen Missstände der globalen Textilproduktion zu überwinden?

Tradition in der Zukunft
Mit der digitalen Transformation hat Picard seinen Umsatz stabilisiert. Doch wie geht es weiter? Während das Wachstum in Litauen und Lettland vielversprechend ist, bleibt der stationäre Einzelhandel in Deutschland weiterhin eine Herausforderung. Flughafenshops spielen in der Post-Covid-Zeit eine zunehmend wichtigere Rolle, da sie eine kaufkräftige internationale Kundschaft ansprechen, die sich gezielt für hochwertige Marken entscheidet. Auch die direkte Kundenansprache über den eigenen Onlineshop wird weiter forciert, um unabhängiger von Plattformen wie Amazon zu werden.
Die strategische Positionierung im Light-Premium-Segment bleibt ein zentrales Ziel. Das Familienunternehmen setzt darauf, sich klar von Massenware und kurzfristigen Trends abzuheben. Auch der Wettbewerb mit Fast-Fashion-Ketten stellt die Marke vor Schwierigkeiten. Während Zara und H&M durch Massenproduktion und niedrige Preise dominieren, setzt Picard auf Langlebigkeit und hochwertigere Materialien. „Unsere Kunden sind nicht die, die jeden Monat eine neue Tasche kaufen. Sie suchen Qualität, und genau da setzen wir an“, sagt der Geschäftsführer. Trotz der Premium-Strategie bleibt das Unternehmen pragmatisch. Die Nachfrage nach preisgünstigeren, synthetischen Materialien ignoriert Picard nicht und bietet deshalb Taschen aus recyceltem Kunstoff an. „Ökologisch sinnvoll gegerbtes Leder bietet stets die meisten Pluspunkte bezüglich Nachhaltigkeit“, betont Picard.
Der Wandel von Picard ist noch nicht abgeschlossen. Doch eines ist klar: Der deutsche Taschenhersteller hat erkannt, dass Tradition allein nicht reicht. Die Zukunft gehört denen, die sich anpassen – und genau das tut Picard.