Verbraucherschutzorganisationen haben Zulauf, Selbsthilfegruppen formieren sich, no-frills und Schnäppchenjagd sind Statussymbole, alle Medien greifen publikumswirksam die Beispiele des Übertriebenen, Überzogenen, Desinformierenden, Manipulierenden auf und prangern an. Mal sehr ernst, mal augenzwinkernd. Man lese nur einmal Marcus Rohwetters Quengelzone in Die Zeit, bspw. Nr. 42 vom 11. Oktober, S. 29: „Liebe Marketingleute, ich weiß ja, dass es schwierig ist, ein Produkt als neu erscheinen zu lassen, das bereits hundertfach vorhanden ist. Doch wenn es eins weniger geben würde, wäre das auch nicht weiter schlimm. Marketeers exkulpieren sich mit dem Konstrukt des mündigen Konsumenten, der um seine Umwerbung weiß und Konsumentscheidungen reflektiert trifft (manchmal ex ante, meistens ex post, das macht aber nichts, denn „nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ und sie gehen vom lernenden Subjekt aus). So weit so gut.
Plattes Verkaufen, Überflüssiges, Nebensächliches und Doppeltes – woran liegt’s?
Woran liegt es, dass Unternehmen immer häufiger des aufdringlichen, aufschwatzenden, platten Verkaufens von Überflüssigem, Nebensächlichem, Doppeltem bezichtigt werden? Vielleicht weil bei uns in den Breitengraden die Grundbedürfnisse gedeckt sind. Und weil auf Basis dieser Grundlinie des Wohlstands die Menschen nach Sinn streben, und Unsinn erstens Erkennen und zweitens unter Anwendung von gesundem Menschenverstand vermeiden wollen. Sinnvolles tun, Nutzen stiften, sich und andere nach vorne bringen, sich und die Gesellschaft weiterentwickeln, Lebensstandard vor allem für die Nachkommen verbessern ist der Anspruch und nicht Täuschung, Verschwendung, Wertevernichtung. Und wenn nicht wir, wer denn dann soll hier den Vorreiter machen?
Wenn diese Wahrnehmung stimmt, fehlt den Unternehmen der Schlüssel, um von quantitativem zu qualitativem Wachstum zu gelangen. Mit Betriebswirtschaftslehre allein ist dem nicht beizukommen, es braucht interdisziplinäre Bereicherung. Nur leider muss wohl Malik und Maucher Recht gegeben werden, dass den (Marketing-)Managern eine gewisse Belesenheit inklusive des Interesses an Kultur und anderen Bereichen, die nicht originär mit dem Unternehmen zu tun haben, abgeht.
Am Wissen um Marketing liegt es nicht, dass die Qualität leidet: Bücher, Kongresse wie Seminare und Vorlesungen heißen Marketing 3.0, werteorientiertes Marketing, Moderne Markenführung, sie gibt es in jeder Fasson und seit die Schüler von Kotler und Meffert selbst publizieren, hat kein Wirtschaftswissenschaftler die Chance, unberührt daran vorbeizukommen. Corporate Social Responsibility, Sustainability, Green Marketing hat vor Jahren in die Curricula der Universitäten und Geschäftsberichte der (Dax-)Unternehmen Einzug gehalten. Fallstudien zu fast allem sind bekannt, Expertise ubiquitär verfügbar – beides ist, wenn nicht umsonst, so doch bezahlbar jedermann zugänglich.
Dann liegt es vielleicht an der Anwendung des Wissens. Eine bemerkenswerte Zusammenfassung all diesen Wissens liest sich wie folgt: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann“ (Saint-Exupéry). Beschreitet der Marketing-Manager die Via Negativa, den Weg des Verzichts, des Weglassens, des Reduzierens, um Perfektion zu erlangen, dann ist er auf dem Weg, Marketing besser zu machen. Er wird einsehen, dass es viele Wege nach Rom gibt und, ja, dass man nicht wirklich sagen kann, was perfektes Marketing ist und wie erfolgreich es damit sein Unternehmen macht. Man lernt aber, was Perfektion verhindert und was dementsprechend Erfolge beschränkt oder Erträge, (Unternehmens-)Existenzen oder Wohlstand vernichtet. D.h. übersetzt für das Marketing-Management: Wir brauchen nicht auf Teufel komm raus mehr Produkte, weitere Preisdifferenzierungen, mehr Place oder neuartige Promotions, nur um der Anwendung unseres Wissens wegen. „Wir brauchen nur weniger Fehler“ (Dobelli). Der Weg zum Perfekten führt über den Verzicht, das Weglassen, das Minimalisieren. Gleichbleibender Ertrag bei weniger Mitteleinsatz wäre in Westeuropa qualitatives Wachstum – weniger Marketing wäre mehr.
Oder es liegt an den Personen, die das Wissen anwenden. Was machen die handelnden Personen falsch oder was ist an ihnen zu bemängeln, wenn die Qualität nicht stimmt? Unterstellt, sie haben das ganze Wissen, dann geht es um Führung. Wie kann, wie muss ein Marketing-Manager führen? Unter der Annahme, Fach-Kompetenz ist gegeben, hat Führung etwas mit Entscheidungs-/Weisungsbefugnissen und Persönlichkeit/Eigenschaften zu tun.
Die Befugnisse leiten sich ab aus den Geschäftsführungs- und Vertretungsrechten aus dem HGB respektive aus dem Direktionsrecht aus dem Arbeitsrecht. Je hierarchisch höher das Marketing im Unternehmen angesiedelt ist, desto weniger Exkulpationsmöglichkeiten gibt es für Fehler/Fehlverhalten, sinnloses Tun oder Sinnhaftes zu unterlassen. Der CMO ist der originäre Anspruchsgegner. Gibt es keinen CMO oder steht Marketing in der Organisation unter ferner liefen, hat das negative Auswirkungen auf die Qualität. Die strukturelle Aufstellung lässt sich relativ leicht beheben; folgt man den klassischen Organisationsprinzipien obsiegt eher über kurz als lang die Kompetenz und Karrierestreben in den Abteilungen stellt die Qualität sicher.
Im Marketing ist Vertrauen das A und O
Mit den Führungseigenschaften ist es nicht ganz so einfach. Nicht jedem sind sie gegeben, nicht jeder kann/will sie erlernen. Führungseigenschaften sind notwendig, um Vertrauen auszubilden. Im Marketing ist Vertrauen das A und O – es ist essentiell, Vertrauen von Kunden, Mitarbeitern, Vorgesetzten, Shareholdern zu gesprochen zu bekommen. Dafür sind Glaubwürdigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Standhaftigkeit unabdingbar. In dem hier bedachten Kontext der Suche nach Perfektion und dem Bestreben, etwas Sinnhaftes zu tun, geht es um vier Konjunktionen von „Trauen“:
- Betrauen: Marketing wird mit Wichtigem beauftragt
- Zutrauen: Vom Marketing-Manager wird etwas erwartet, was er kann
- Vertrauen: Marketing wird vertrauensvoll der Obhut von Marketeers übergeben
- Sich trauen: Der Marketing-Manager weiß, was er tut und geht voran
Bekommt Marketing diesen „Vertrauensvorschuss“, hat das Unternehmen seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Des Marketing-Managements Kompetenz und Verantwortung ist es, für das Gesagte, Geschriebene, Versprochene einzustehen. „Ich übernehme die volle Verantwortung“ heißt dann im Zweifel, sich bei Kunden zu entschuldigen, abzutreten, Reparationszahlungen zu leisten. Mauchers Lieblingsspruch zu diesem Thema lautet: „Die Männer haben alle eine Wirbelsäule, aber nur wenige ein Rückgrat“. Ein wichtiger Schritt zur Perfektion im Marketing wäre, wenn der CMO das Standing hätte, vorbildlich und tugendhaft zu handeln.
Weniger machen, mehr führen
Perfektion ist nicht leicht zu erlangen. Um Marketing perfekt zu machen, muss man wissen, wovon man redet, das Wichtige vom Nichtigen trennen können, man braucht Vorstellungskraft, Lernfähigkeit, Mut. Man muss auch die Arbeitsteiligkeit organisieren (bspw. zwischen F&E, Produktmanagement, Agenturen etc.), die Transaktionskosten senken (z.B. Werbebudgets), Entscheidungen treffen („das machen wir jetzt nicht, weil…“), Deckungsbeiträge und damit die Existenz sichern und Mitarbeiter mitnehmen (eben „Radikal Führen“ nach Sprenger). Marketing steht es gut zu Gesicht, weniger zu machen, mehr zu führen.
Über den Autor: Dr. Andreas Kricsfalussy ist Partner bei der Management-Beratung Horn & Company in Düsseldorf und Dozent für Marketing an der ISM in Dortmund.