Outing und Karriere: eine komplizierte Beziehung

Wie offen sollten Manager*innen mit ihrer LGBTQI+-Identität umgehen? Wer sich als Role Model engagiert, kann andere ermutigen und damit die gesamte Diversity-Bewegung unterstützen. Mit der Entscheidung sollte man sich aber persönlich sehr wohlfühlen.
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Homosexualität ist in manchen Unternehmen weiterhin ein Problem. (© Stocksy)

Wer etwas zu verbergen hat, kann sich seit über 20 Jahren vertrauensvoll an Stefan Eiben wenden. Er betreibt ein Netz von Alibi-Services, die in zahlreichen deutschen Großstädten sowie in Österreich, der Schweiz und Spanien verfügbar sind. Die Teams verschaffen Alibis für Seitensprünge, verschleiern Affären und organisieren sogar langjährige Doppelleben. „Was unsere rund 3600 Mitarbeitenden motiviert, ist nicht zuletzt das Bedürfnis, Menschen in schwierigen Situationen zu unterstützen“, sagt Eiben.

Die Alibi-Agentur wird auch gern von schwulen und lesbischen Personen beauftragt, die ihre sexuelle Identität verschweigen wollen. Sie ordern gern heterosexuelle Schein-Partner*innen, etwa für öffentliche Auftritte, Firmen-Events oder Feiern im Freundeskreis. „Wir bekommen fast jede Woche eine Anfrage aus diesem Bereich“, berichtet der Agentur-Gründer. Die erste Kundin kam vor 24 Jahren, direkt nach Gründung der Alibi-Agentur – eine Sängerin, laut Eiben ein B-Promi: „Sie hatte Angst, dass ihr Vertrag bei ihrem Musiklabel gekündigt wird, sollte ihr Lesbischsein publik werden.“

Heute betreut die Agentur schwule und lesbische Kund*innen nicht nur aus dem Entertainment- und Medienbereich, sondern zum Beispiel auch aus dem Sport: Fußball, Handball, Basketball, Schwimmen – viele Disziplinen sind vertreten. Ein Großteil entfällt auf das Management in Unternehmen, so Eiben: „Wir bekommen E-Mails, die wie Hilferufe klingen: Ich arbeite in einem sehr schwulenfeindlichen Umfeld – können Sie mich unterstützten?“ Die Anfragen kommen querbeet aus fast allen Branchen, nur aus der Modewelt hat sich noch niemand gemeldet.

Mit 300 Euro ist die Weihnachtsfeier gerettet

Der Kostenrahmen für die Alibi-Services beginnt bei 300 bis 500 Euro, zum Beispiel für eine heterosexuell wirkende Begleitung bei einer Weihnachtsfeier. Bei Kundschaft aus dem Management geht es nicht nur um die Wirkung in der Öffentlichkeit oder gegenüber Kolleg*innen. Auch geschäftliche Kontakte mit Firmen aus muslimisch geprägten Ländern, aber auch Ostasien stellen immer wieder eine Herausforderung dar: „Deren Unternehmensvertreter wollen Gesprächspartner mit kompletten, intakten Familiengeschichten“, sagt Eiben. „Da müssen Fotos her: Frau, Kinder, Haus.“

Natürlich nimmt nur eine kleine Minderheit der Betroffenen die Dienste der Alibi-Agentur wahr. Sie ist aber Seismograf für das Klima in den Unternehmen, bei den Behörden, auf dem Sportplatz. Immer noch fürchten nicht nur Schwule und Lesben, sondern die gesamte LGBTQI+-Community negative Reaktionen: Behindere ich mit einem Outing meine Karriere? Isoliere ich mich im Management? Verschrecke ich Fans und Follower?

Allerdings hat sich vor allem in den Unternehmen in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Zahlreiche Top-Manager, allen voran Apple-Chef Tim Cook 2014, haben sich öffentlich geoutet. Immer mehr Unternehmen schreiben sich Diversity auf die Fahnen und fördern eine tolerante Firmenkultur. Marken wie McDonald’s, Coca-Cola, Adidas, Lufthansa und Lego signalisieren Regenbogen-Offenheit in Werbekampagnen, vor allem zum „Pride Month“ Juni. Das alles senkt die Hemmschwellen für öffentliche Bekenntnisse, auch für Transgender-Personen: Vor vier Jahren wagte es in Schweden der CEO des Versicherers ICA Insurance, unter dem Namen Caroline Farberger das Geschlecht zu wechseln.

War Tim Cooks Outing ein „Marketinggag“?

Doch trotz der positiven Entwicklung: „Von einem flächendeckenden Ruck durch die gesamte Wirtschaft kann nicht die Rede sein“, sagt Kurt Siering, Vorsitzender des Vorstands beim Völklinger Kreis. Der VK ist ein Netzwerk schwuler Führungskräfte und Selbstständiger. Mit seinen rund 800 Mitglieder engagiert er sich seit 1991 für die berufliche Förderung, Wertschätzung und Chancengleichheit am Arbeitsplatz. Laut Siering lässt sich der Grad der Akzeptanz nicht unbedingt an Branchen festmachen: „Man kann vielleicht sagen, dass sich eine großstädtische Verortung positiv auswirkt. In international operierenden Unternehmen beziehungsweise Konzernen ist die Situation tendenziell besser als im öffentlichen Sektor.“ Nach Berechnungen des DIW Berlin haben sich in deutschen Unternehmen rund 69 Prozent der LGBTQI+-Menschen gegenüber Kolleg*innen geoutet, gegenüber den Vorgesetzten haben dies gut 60 Prozent getan.

Ob und wann sich Manager*innen outen, ist eine sehr private Entscheidung, die von vielen persönlichen Faktoren abhängt. Der Ex-Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger etwa hat sich erst nach dem Ende seiner Karriere öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt. „Ich habe das eher nebenbei bei einer Veranstaltung erwähnt“, berichtete er 2015 in einem Spiegel-Interview. „In einem Umfeld, in dem ich sicher sein konnte, dass es nicht inszeniert wirkte und keine reißerischen Schlagzeilen geben würde.“ Ein öffentliches Outing, wie das von Apple-Chef Tim Cook, deute er als Marketinggag: „Es bedient den Voyeurismus.“

Diese Auffassung stieß auf viel Widerspruch in der schwulen Community. Unter anderem meldet der Führungskräftetrainer Matthias Herzberg in seinem 2022 erschienenen Buch „Andersrum in die Chefetage“ Kritik an. Sattelberger sende „eine fatale Botschaft an die nachfolgende Managergeneration: Macht es wie ich, alles andere ist unanständig.“ Die Diskussion um die gesellschaftlich angenehme Lautstärke sogenannter Randgruppen sei so alt wie die Gleichstellungsdebatte selbst: „Die Position vieler konservativer Stimmen, und leider auch die mancher Betroffenen wie Sattelberger, findet naheliegenderweise viele Sympathien: Macht doch, was ihr wollt, aber bitte auf Zimmerlautstärke.“

Kein Tabu-Thema: Offenheit schon in der Bewerbung

Aber wie proaktiv sollte man als Managerin oder Manager mit dem Thema umgehen? „Wenn Männer ihr Schwulsein im Unternehmen öffentlich machen, sollten sie dabei ein gutes Gefühl haben“, betont der VK-Vorsitzende Siering. Sollte dies der Fall sein, rät er dazu, bereits in der Bewerbung offen mit dem Thema umzugehen: „Sexualität ist Teil der Persönlichkeit und damit kein auszusparendes Tabu-Thema.“

Insbesondere für Topmanager*innen stellt sich dann die Frage, wie weit diese zu einem Faktor der eigenen Positionierung werden kann. Ein offensiver Stil sei besser als nur zu reagieren, findet Siering: „Wer das kann, hat dann auch eine Role-Model-Funktion im Unternehmen und ermutigt andere.“

Die internationale Community hat schon lange verstanden, wie wichtig diese Vorreiter*innen sind. So wird von verschiedenen Organisationen jährlich die „Outstanding Top 100 LGBT+ Executives Role Model List“ veröffentlicht – für Personen, die sich besonders um Diversity-Belange verdient gemacht haben. Die Top 5 des vergangenen Jahres: Ken Ohashi, CEO von Brooks Brothers, Julia Hoggett, CEO der London Stock Exchange, Masa Yanagisawa, Managing Director Goldman Sachs, Sander van ’t Noordende, CEO Randstad, und Jan Siegmund, CFO Cognizant. Unter den Top 100 ist auch Matthias Weber, Vertriebsvorstand der PB Versicherungen in der HDI Gruppe und Sierings Vorgänger als VK-Vorsitzender. Die unmissverständliche Botschaft der Liste: Du bist nicht allein.

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.