Gary, könnten Sie uns in drei Sätzen erklären, wie es zu Ihrem enormen Erfolg kam?
Gary Vaynerchuk: Ich wurde in Weißrussland geboren und kam als Kind von Flüchtlingen nach Amerika. Mein Vater baute sich in New Jersey einen Spirituosenladen auf, und natürlich musste ich in seinem Laden arbeiten. Als mir 1994 ein Freund erstmals das Internet zeigte, sagte er die folgenschweren Worte, die mein Leben verändern würden: Das ist der Informations-Super-Highway und da können wir Mädels aufreißen.
Und weil das mit den Frauen nicht klappte, wandten Sie sich dem Alkohol zu?
Vaynerchuk: Genau. Nach sieben Stunden im AOL-Chat, in dem wir mit Personen chatteten, von denen wir dachten, dass es Mädels sind, wurde mir plötzlich klar: Ich muss gar nicht viele Filialen in den Staaten eröffnen. Ich verkaufe via Internet. Ein halbes Jahr später startete ich mit Winelibrary.com. Die Website kostete mich 15000 Dollar und im ersten Jahr verkaufte ich dort Wein im Wert von 800 Dollar. Mein Vater war damit nicht glücklich.
Würden Sie heute etwas Ähnliches wieder machen?
Vaynerchuk: Auf jeden Fall, wir sind doch erst am Anfang. Wenn Sie betrachten, welches Risiko ich damals einging, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass das auch heute funktionieren würde. Der Punkt ist doch: Jeder Onlinehändler weiß heute wie Conversion funktioniert und er kann alles mögliche analysieren und berechnen. Wenn das Ganze aber ein Mathespiel wäre, dann hätten LivingSocial, Zynga oder Groupon das Spiel längst gewonnen. Ganz viele Menschen im E-Commerce, mit denen ich spreche, übersehen den Wert langfristiger Kundenbeziehung und den Wert einer guten Marke. Und sie kratzen bei Innovationen nur an der Oberfläche. Wenn Sie aber wirklich erfolgreich sein wollen, müssen Sie etwas riskieren. Sie müssen in die Marke investieren und in die Plattform, über die Sie arbeiten. Wenn ich etwas Neues, Spannendes sehe, schließe ich mich eine Woche im stillen Kämmerlein ein, bis ich verstanden habe, wie das funktioniert.
Man muss also früher da sein als andere.
Vaynerchuk: Oder anders als andere. Sobald das Marketing ein Thema für sich entdeckt hat, ist es durch. Das war mit dem Banner so und hat zur Bannerblindheit geführt. Das passiert gerade mit mobiler Werbung, die sich dem eigentlichen Ziel des Users in den Weg stellt. Die Menschen hassen das. Als nächstes trifft es vielleicht Facebook, weil die immer mehr Werbung zum Nutzer bringen und immer weniger Inhalte von Freunden.
Sie meinen, dass Facebook als Plattform an Bedeutung verlieren könnte?
Vaynerchuk: Ja, das könnte sein. Social Media dringt überall ein. Schon jetzt haben die Dark Posts auf Facebook eine sehr hohe Bedeutung bekommen. Das sind zielgerichtet ausgesteuerte Posts, die nicht auf der eigenen Timeline auftauchen. Das ändert sich gerade sehr schnell. Da alles mobile wird, ist alles Feed. Es ist also eine lineare, einspaltige Darstellung, in der wir vor- und zurückrollen. Das ist bei allen Plattformen gleich. Diese User Experience ändert natürlich auch das Verhalten.
Es geht also mehr um eine lineare Form der Datenaufbereitung?
Vaynerchuck: Zu 100 Prozent. Die Schlacht tobt um die Frage, wie kann man jemand anhalten? Er hat ja immer weniger Zeit und Zeit bedeutet Aufmerksamkeit.
In dem Fall ist Content Marketing doch Unsinn, oder? Der kostet den Nutzer ja viel mehr Zeit.
Vaynerchuck: Natürlich passt das zusammen. Der kleine Bildschirm ist das Gateway zu den langen Inhalten. Ich habe gerade erst eines meiner allerlängsten Videos überhaupt veröffentlicht und das funktioniert. Die Frage ist aber, mit welchem Text und welchem Screenshot bewerbe ich das? Die Menschen kommen eben nicht von alleine. Vielleicht war das früher der Fall, heute gilt das nicht mehr. Jeder Journalist muss besser darin werden, die Storys, die Inhalte die er erzeugt dorthin zu bringen, wo die Nutzer sind. Er muss sie aufhalten. Wenn Sie zum Beispiel ein Interview mit mir machen, sollten sie das nicht nur bei Ihren sondern auch bei meinen Fans bewerben. Da ist die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass jemand zuhört.
Sie stehen für Transparenz und Authentizität. Können Sie der Idee von Native Advertising etwas abgewinnen?
Vaynerchuck: Ich bin ein großer Fan davon. Aber man muss mit offenem Visier antreten. Damit beende ich auch jede Diskussion, auch hier in Deutschland. Wer nicht ehrlich ist, wird das Spiel auf lange Sicht verlieren. Punkt. Keiner will verarscht werden.
So ganz präzise kann man aber doch zwischen redaktionellen und werblichen Inhalten gerade in Social Media nicht mehr unterscheiden.
Vaynerchuk: Das stimmt. Aber das ist auch genau der Grund, warum man gar nicht erst das Risiko eingehen muss. Es reicht ein eindeutiger Hashtag, der darauf hinweist, dass das werblich ist, und Sie sind im Spiel.
Ab wann darf man voraussetzen, dass der User weiß, was geschieht? Wenn ich einen neuen Anzug von Boss habe und das mit dem Hashtag #Boss veröffentliche, darf dann Boss das Bild als Werbemittel benutzen?
Vaynerchuk: Es gibt eine Reihe von Plattformen, die mit diesem Thema gerade spielen. Ich finde, die Unternehmen sollten diese Contents benutzen, denn sie sind viel ehrlicher und authentischer als Werbefotos. Ich glaube die meisten User sehen sich gerne als Teil einer Kampagne bei einer Marke, die sie mögen. Aber ich glaube, ich würde die User doch fragen. Ich verlasse mich nicht so gern auf Glück und gehe da eher auf Nummer sicher. Und es gibt ja auch keinen Grund dafür, es nicht zu tun.
Das ist auf jeden Fall ein sehr spannendes Thema. Wenn Sie mir heute eine Software zeigen würden, wo ich mit einem Knopfdruck User Generated Content sehen und mit dem zweiten den User um seine Erlaubnis fragen kann , das nutzen zu dürfen – ich wäre der erste, der investiert. Ich glaube, das ist ein technisches Thema, das bald gelöst sein wird. Aber sie haben Recht, man muss den Menschen dahinter respektieren, auch wenn man glaubt, dass 99 Prozent der Leute mitmachen.
In Deutschland vermutlich eher 80 Prozent.
Vaynerchuk: Ja, vielleicht. Aber da muss man genau hinsehen. Wer schon ein Bild von sich in einem Boss-Anzug auf Twitter veröffentlicht hat, hat vielleicht doch einen anderen Bezug zur Marke. Und dann sind es doch eher 95 Prozent.
Nutzer-Testimonials sind eine Art von Influencer-Marketing mit kleineren Influencern. Wie stehen Sie zu diesem aktuellen Hype-Thema: Sollte man eher mit dem weltberühmten YouTuber Kontakt aufnehmen, oder mit vielen kleinen, die in ihrem Freundeskreis Wirkung entfalten?
Vaynerchuk: Das muss man auf jeden Fall mischen. Bei Vayner Media nehmen wir immer ein oder zwei Vorzeige-Influencer, wir nennen Sie Signature-People, und die andere Hälfte des Budgets würde ich in 1000 kleinere Influencer investieren. Ich bin überrascht davon, wie intensiv diese Debatte geführt wird und wie viele sich für die eine oder andere Strategie entscheiden. Ich gehe nie „All-In“ auf eine Seite. Warum? Beides zusammen funktioniert perfekt. Der große Influencer macht Breite, der kleine Influencer macht Tiefe und wenn jemand mit beidem in Kontakt kommt, ist diese Kontaktqualität um ein Vielfaches höher.
Wie wählt man den Big Influencer aus? Muss er intrinsisch was mit der Marke zu tun haben?
Vaynerchuk: Nein. Er muss dort Aufmerksamkeit haben, wo wir hinwollen.
Selbst wenn er noch nie was mit Ihrer Marke zu tun hatte?
Vaynerchuk: Ganz ehrlich, die meisten haben doch eh mit gar nichts zu tun. Ich war früher eine Nische. Die heutigen Berühmtheiten stehen doch meistens für nichts, Sie sind hübsch oder kreativ. Sie sind eher Models oder Schauspieler als berühmte Köche. Nur die wenigsten davon sind Experten in einem Genre.
Aber gibt das nicht ein Problem mit der Glaubwürdigkeit des Influencers, wenn er für irgendwas wirbt?
Vaynerchuk: Wenn das nicht zu ihm passt, wäre das eine schlechte Idee, aber dafür ist er selbst verantwortlich. Ich bekomme alles mögliche an Zeug angeboten, sogar ein Luxusauto und eine Menge Geld. Aber ich habe darauf verzichtet, weil ich Angst davor hatte, meine Fans zu enttäuschen. Wenn jemand Wasser trinkt und Zuckerwasser hasst, sollte er nicht für Coke werben. Wenn er gelegentlich Coke trinkt, dann fühle ich mich damit wohler.
Als Marketer sollte ich also versuchen, den Influencer zu verpflichten und der Rest ist sein Problem.
Vaynerchuk: Zu 100 Prozent, aber Sie haben natürlich Recht, das ganze sollte strategisch erfolgen. Wenn ein Influencer sein Fähnchen nach dem Wind dreht, dann würde ich mich als Marke nicht auf ihn konzentrieren. Das Risiko für wäre mir zu groß.