Vernachlässigen wir einmal die Doppelzüngigkeit und Scheinheiligkeit in der Debatte, dann bleiben doch zwei spannende Fragen: Erstens, warum sollten globale Marken Verantwortung für die politischen Konsequenzen ihres Handelns übernehmen? Und, zweitens, warum blicken wir zunehmend auf Marken, wenn es darum geht, politische Aufgaben zu lösen?
Die grundlegende Antwort auf beide Fragen lautet: weil wir erkennen, dass Marken mehr und mehr zu zentralen politischen Akteuren werden. Dabei geht es nicht (nur) um die längst bekannte Erkenntnis, dass ökonomische Akteure, Unternehmen, den Gang politischer Diskussionen und den Inhalt politischer Entscheidungen beeinflussen (vom geregelten Lobbyismus über kriminelle Korruption bis zum angeprangerten „wirklichen“ gesellschaftlichen Machtzentrum). Es geht darum, dass Marken in vielfältiger Weise unser alltägliches Verhalten sehr konkret beeinflussen. Google verändert massiv unser Informationsverhalten. Microsoft verändert unseren Arbeitsalltag. Und Marken wie Coca-Cola oder MacDonald verändern nicht nur unsere Essen- und Trinkgewohnheiten, sie verändern auch unsere körperlichen (Aus-)Masse.
Der politische Einfluss von Marken basiert natürlich nicht darauf, politische Direktiven erlassen zu können. Er basiert vielmehr darauf, dass Marken als Identifikationsangebote an zunehmend orientierungslose Konsumenten deren Verhalten weit über den banalen Kauf- und Konsumtionsakt hinaus prägen: Man findet spannend, was Google spannend findet und was in der Hierarchisierung des Informationsangebots zum Ausdruck kommt. Es schmeckt gut, was MacDonald als gut schmeckend definiert und in sein Angebot übernimmt. Man definiert professionelles Kommunikationsverhalten so, wie Microsoft dies vordenkt, und es sich in Form und Inhalt des E-Mail-Systems widerspiegelt. Aus den „geheimen Verführern“ der 50er und 60er Jahre (so die damalige Kritik an „Reklame“) sind mittlerweile zentrale Sozialisationsinstanzen geworden – so muss man die Ergebnisse professioneller Markenbildung wohl sehen.
Es ist offensichtlich, dass diese machtvolle gesellschaftliche Position auch politischen Widerstand provoziert. Vorsichtige Fragen nach den Kontrollmechanismen dieser Macht kennzeichnen die parlamentarische Diskussion um die soziale Verantwortung von Marken. Die Attacken militanter Globalisierungsgegner sind augenscheinlichster Ausdruck eines aggressiveren Widerstands, dessen Manifest Naomi Klein mit ihrem Buch „No Logo“ schrieb.
Der politische Bedeutungs- und Machtgewinn von Marken verweist schließlich auf den schleichenden Bedeutungs- und Vertrauensverlust der „eigentlich zuständigen“ politischen Institutionen. Marken trauen scheinbar immer mehr Menschen dort etwas zu, wo sie ansonsten längst vom Versagen politischer Einrichtungen ausgehen. So traut man Google in China wohl mehr Standhaftigkeit und Einfluss als den meisten westlichen Regierungen zu. Nicht ganz unverständlich, wenn man darüber nachdenkt, wie glaubhaft (unter anderen) die amerikanische Regierung gegen die Diktatur in Peking in der Regel antritt.
Über den Autor: Dr. Jürgen Häusler ist CEO von Interbrand Zintzmeyer & Lux