„New Normal“ bedeutet „Next Level“ – und wartet darauf, aktiv gestaltet zu werden

Wie sieht die "neue Normalität" nach der Corona-Krise aus? Wer definiert "professionelles Arbeiten" von Zuhause? Wie bringe ich familiäre Herausforderungen und den Anspruch an meine Arbeit in Balance? Tobias Krüger, Bereichsleiter Kulturwandel 4.0 der Otto Group, hat sich zu diesen Fragen umfassende Gedanken gemacht. Eine kritische Bestandsaufnahme, die aber auch viel Zuversicht enthält.
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Otto-Manager Tobias Krueger: "Organisationen sind so wie sie sind, weil die Führungskräfte sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Und das wird heute eben ganz besonders sichtbar. Sich als Führungskraft darüber zu beklagen, zeigt nur, wie wenig man sich der eigenen Verantwortung bewusst ist." (© Otto Group)

Von Tobias Krüger

Ich bin in letzter Zeit öfter angesprochen worden, was meine Gedanken zum sogenannten „New Normal“ für die Zeit nach der Corona-Krise sind. Häufig soll ich dann irgendeinen bestehenden Status Quo bewerten oder das Verhalten Anderer – vor allem von Chefs – kommentieren. Im Folgenden habe ich meine Überlegungen dazu aufgeschrieben.

Die Krise als Lupe nutzen

Wenn ich auf die aktuellen Herausforderungen schaue, dann denke ich tatsächlich nicht in den Kategorien „gut“ und „schlecht“ beziehungsweise „richtig“ und „falsch“. Somit bewerte ich auch nicht. Stattdessen zeigt sich, dass diese Krise wie eine Lupe wirkt und Bestehendes in den Fokus rückt, vergrößert und gar überzeichnet. Aus meiner Sicht werden also in dieser verrückten Zeit Muster und Gedankenkonstrukte sichtbar, die jetzt – und das ist aus meiner Sicht die große Chance – besprechbar werden.

Wir alle sind gezwungen worden, unsere Arbeitsweisen von heute auf morgen an diese besonderen Zeiten anzupassen. Dabei haben sich wesentliche und vermeintlich stabile Rahmenbedingungen in sehr kurzer Zeit fundamental verändert. Das öffentliche Leben wurde auf ein Mindestmaß reduziert. Schulen und Kitas wurden geschlossen sowie die meisten Aktivitäten in Organisationen heruntergefahren.

Aktuelle Errungenschaften erhalten und Muster überwinden

Und es lässt sich zunächst einmal festhalten: es funktioniert!

Diese Anpassungen klappen besser, als wir uns alle wohl zugetraut haben oder auch zugemutet hätten. Mir persönlich macht das Mut. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingen kann, die vielen positiven Aspekte dieser neuen Form der Zusammenarbeit zu erhalten.

Denn wer erinnert sich nicht an die – aus heutiger Perspektive vorgeschobenen – Gründe, warum flexibles, mobiles Arbeiten nicht möglich ist? Mal wurde die technologische Ausstattung, mal betriebliche Abläufe angeführt. Dann lag es mal am organisatorischen Rahmen oder wahlweise an einem wertkonservativen Führungsverständnis.

Doch im Frühjahr 2020 ging es quer durch die Republik plötzlich schnell. Hard- und Software wurden gekauft. Technische Lösungen entwickelt, Betriebsvereinbarungen beschlossen und – schwupps – sogar Tätigkeiten, die – vermeintlich – nie von zu Hause aus bewerkstelligt werden konnten, genau dorthin, in das Mobile Office verlagert. So haben wir ganz nebenbei tiefe Einblicke in die Organisation und Struktur weiter Teile der deutschen Wirtschaft erhalten:

  • Welche Tätigkeiten sind wirklich unverzichtbar?
  • Wer muss wirklich am Arbeitsplatz und Firmensitz physisch anwesend sein?

Ich bin sehr gespannt zu sehen, ob uns diese Perspektive gesellschaftlich nach vorne bringen wird und wo es uns gelingen wird, diese Muster tatsächlich zu überwinden. Doch wie können wir das schaffen?

Im Team-Dialog Klarheit und Orientierung schaffen

Die unternehmenskulturellen Unterschiede, die ich sehe, sind enorm. Es wurde und wird immer noch landauf, landab diskutiert, wie „professionelles“ Arbeiten von zu Hause denn jetzt auszusehen habe:

  • Ob die Kinder, Partner*in oder Haustiere durch die Videocalls laufen dürfen oder nicht?
  • Ob man kurz die Tür öffnen kann, wenn der Paketbote klingelt?
  • Und sitze ich eigentlich im Anzug oder im T-Shirt vor der Kamera?
  • Bin ich überhaupt zu Hause oder gar im Ferienhaus an der deutschen Küste?
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„Collabor8“: ein Coworking Space bei der Otto Group

Und doch bin ich davon fasziniert, wie wenige Organisation und Teams in der Lage zu sein scheinen, solche Fragen überhaupt zu besprechen. Sie verpassen so nicht nur die große Chance, Klarheit und Orientierung zu schaffen, sondern auch mit ihren Mitarbeitenden in einen konstruktiven Dialog zu kommen.

Räumliche Distanz in menschliche Nähe umwandeln

Für mich persönlich ist klar: Warum sollte ich mich für mein Leben schämen? Warum sollte ich irgendetwas verstecken? Meine Töchter? Meine Frau? Meine unaufgeräumte Wohnung? Mich hat die Situation genauso überrascht, wie alle anderen Menschen auch. Also heißt es auch für mich: Wie schaffe ich es, die familiären Herausforderungen, die betrieblichen Belange und meinen persönlichen Anspruch an die Qualität und den Impact meiner Arbeit in bestmögliche Balance zu bringen?

Warum sollte ich mich für mein Leben schämen? Warum sollte ich irgendetwas verstecken? Meine Töchter? Meine Frau? Meine unaufgeräumte Wohnung?

Tobias Krueger, Bereichsleiter Kulturwandel 4.0, Otto Group

Und ich vermute, dass es den meisten so geht. Jede gesellschaftliche Anpassung wirkt sich direkt auf diese individuelle Balance aus und zwingt zu einer ständigen Anpassung. Man könnte auch von Flexibilität und Agilität sprechen, die so zwangsweise eingeübt werden müssen. Aus meiner Sicht klappt das nur mit gegenseitiger Toleranz und entsprechendem Verständnis. Umso mehr überrascht es, wie wenige Organisationen die Chance nutzen, die räumliche Distanz in mehr menschliche Nähe zu verwandeln.

Ich habe noch nie in so viele Wohnzimmer geschaut. Gesehen, wofür sich Kolleg*innen persönlich interessieren und was sie bewegt. Meine Töchter haben stundenlang auf meinem Schoß gesessen und kennen mittlerweile ziemlich viele Kolleg*innen von mir.

Wozu das gut sein soll?

Neue Schwerpunkte in der Führung setzen

Ich bin doch gerade in dieser Zeit – vor allem als Führungskraft – besonders gefordert, auf die Lebensrealitäten meiner Kolleg*innen zu achten. Noch nie war es so wichtig zu verstehen, wem es psychisch und physisch gut geht. Wie soll ich solche Fragen beantworten, wenn ich die alltäglichen Herausforderungen nicht kenne? Wenn ich nicht weiß, wie familiäre Belastungen aussehen? Ob Kinder betreut werden müssen? Ob es finanzielle Nöte gibt? Wie der schnell eingerichtete Arbeitsplatz aussieht?

Und ja – das Führen ist dadurch viel aufwendiger geworden. Mein persönliches zeitliches Investment in das Team hat sich vervielfacht. Und da es vielen Führungskräften so geht, birgt auch dieser Umstand eine riesige Gelegenheit, neue Qualitäten zu entdecken. Es geht um die folgenden Fragen:

  • Welche Führungskraft kann einen Rahmen schaffen, in denen Teams produktiv arbeiten können?
  • Wem gelingt es, die Balance aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten und Werteorientierung aufrechtzuhalten?
  • Wer agiert auf Augenhöhe?
  • Und noch spannender: Welche Organisationen interessieren sich denn jetzt wirklich für diese Aspekte?
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Kulturwandel 4.0 bei der Otto Group: Tobias Krueger im Interview

Zusätzlich zu den genannten Aspekten wird noch etwas sichtbar: das Menschenbild vieler Akteure. Was wurde nicht alles schon geschrieben von Mitarbeitenden, die sich zu Hause verstecken würden oder – ganz verrückt – tatsächlich am helllichten Tag während der Arbeitszeit einkaufen gehen. Oder, dass die Bewertung eines Mitarbeitenden eigentlich doch nur möglich ist, wenn man diese*n auch real im Arbeitsalltag erlebt.

Diese Aspekte werden im Moment verstärkt angeführt, wenn es um die Frage geht, ob und wann Mitarbeitende wieder in die Büros kommen sollen. Und: Zumeist werden solche Thesen von den Führungskräften geäußert.

Als Führungskraft Verantwortung übernehmen

Dabei wird gerne vergessen, dass eben diese Führungskräfte diejenigen sind, die an dieser Stelle der eigenen Verantwortung nicht gerecht werden. Oder anders: Deren Versäumnisse nun umso sichtbarer werden. Denn: Mitarbeitende, die sich zu Hause verstecken (und die gibt es ganz sicher), haben dies in der Regel vorher in der Firma auch schon machen können. Es ist damit das Ergebnis von zuvor erfolgter mangelnder Führungsleistung. Also: Wenn sich eine Führungskraft beklagt und zu wenig Vertrauen darin hat, dass die Mitarbeitenden im Sinne des Unternehmens handeln, dann sollte sie sich genauso fragen lassen, warum diese Personen eingestellt wurden.

Es fällt Vielen schwer, eine Chance darin zu erkennen, wenn Leistungen nicht den Erwartungen entsprechen. Doch eine solche Situation erlaubt es, den Dialog zu suchen. Und idealerweise findet dieser nicht nur zwischen Mitarbeitendem und Führungskraft statt, sondern wiederum auch zwischen der Führungskraft und seiner Führungskraft.

Wer es nicht geschafft hat, ein Mindestmaß an Menschlichkeit und Werten in seinem Team oder seiner Organisation zu verankern, dem wird dies jetzt auf Distanz erst recht nicht gelingen.“

Tobias Krueger, Bereichsleiter Kulturwandel 4.0, Otto Group

Aber – und auch das ist eine meiner Beobachtungen – sehr häufig ist nie geklärt worden, wann eine Arbeitsleistung „gut“ oder „schlecht“ ist. Wo will man gemeinsam hin? Wann ist ein Produkt oder Projekt „fertig“? Das macht deutlich, dass Zielsysteme nicht gemeinsam definiert wurden.

Klar – das sind alles keine guten Voraussetzungen für mobiles Arbeiten. Aber am Ende eben auch häufig die Versäumnisse der Führungskräfte.

Verkürzt kann man sagen: Die Organisationen sind so wie sie sind, weil die Führungskräfte sie zu dem gemacht haben, was sie sind. Und das wird heute eben ganz besonders sichtbar. Sich als Führungskraft darüber zu beklagen, zeigt nur, wie wenig man sich der eigenen Verantwortung bewusst ist.

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Kulturwandel 4.0 bei der Otto Group – die Idee

Und noch etwas wird durch die Krise deutlich: Wer es nicht geschafft hat, ein Mindestmaß an Menschlichkeit und Werten in seinem Team oder seiner Organisation zu verankern, dem wird dies jetzt auf Distanz erst recht nicht gelingen. Teams, die vieles von dem so oft beschriebenen „New Work“-Mindset bereits zuvor trainiert haben, kommen gut durch die Krise, laufen häufig zu Hochform auf und wachsen an den Herausforderungen.

Die (Zusammen-)Arbeit der Zukunft gestalten und Aushandlungsprozesse zulassen

Aus meiner Perspektive wird sich (Zusammen-)Arbeit radikal und nachhaltig verändern. Weder das „alte“ Modell des (fast) ausschließlichen physischen Zusammenarbeitens noch das (fast) ausschließliche mobile Arbeiten wird sich durchsetzen. Ich vermute, dass es je nach Aufgabe, Reifegrad des Teams sowie dem implizit oder explizit gesetzten Rahmen der Organisation sich irgendwo zwischen 40 und 80 Prozent physischer Arbeit einpendeln wird – abhängig von der Progressivität eines Unternehmens und selbstverständlich auch von der jeweiligen Branche.

Sicher ist, dass es nicht so wird, wie es einmal war. Dieser Illusion hinterher zu laufen, ist aus meiner Sicht vergeudete Zeit und Energie, die es besser anderweitig einzusetzen gilt.

Denn ich wäre sehr überrascht, wenn viele der neu gewonnenen Freiheiten, widerstandslos einfach wieder abgegeben werden. Dafür hat sich an zu vielen Stellen gezeigt, dass eben doch einiges möglich ist. Ganz ehrlich: Warum sollten Mitarbeitende auch darauf verzichten wollen? Ist doch das wirtschaftliche Überwinden dieser Krise vor allem auf deren Flexibilität und Disziplin zurückzuführen. Und der Beweis, dass vieles erfolgreich funktioniert, ist mittlerweile längst erbracht.

Spannend wird sein, wie es Unternehmen gelingt, hier konstruktive Dialoge zu ermöglichen, um das Aushandeln eines Handlungsrahmens und der Möglichkeiten zuzulassen. Auch das Vorleben von Topmanager*innen wird massiv (implizite) Erwartungen erzeugen und sich in gezeigtem Verhalten in der Organisation ablesen lassen.

Büroflächen als emotionale Anker etablieren

Wie wird sich die Nutzung von Büroflächen verändern? In Abhängigkeit von dem Anteil der mobilen Arbeit stark, vermute ich. Das Mobile Office wird der Ort der täglichen Arbeit sein. Ins Büro kommt man dann nur noch für gemeinsame Kollaboration und für die sozialen Kontakte. Vornehmlich trifft man sich in Meeting-Räumen, in Social Spaces oder in Coworking Areas. Das bedeutet auch, dass (große) Organisationen gut daran tun, sich zu überlegen, wofür die eigenen Büros und Standorte noch stehen sollen. Meine These: Es geht um den emotionalen Anker. Bis Büros „Sinn“ stiften ist es dann aber auch noch ein langer Weg, der am besten aktiv gesteuert wird.

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(Un-)sichtbarer Wandel: Wie bei der Otto Group eine neue Arbeitswelt entsteht.

Ich würde mir zudem wünschen, dass wir alle erkennen und lernen, dass man nicht mehr an dem Ort leben muss, an dem man arbeitet. Diese Entkopplung erlaubt neue Formen der (Zusammen-)Arbeit und könnte so aus der Nische in die Breite der Gesellschaft kommen. Ganz nebenbei gewinnen Themen wie Talent- und Personalmanagement an Bedeutung und werden plötzlich noch mehr zum erfolgskritischen Faktor, wenn sich Fachkräfte ihre Arbeitgeber ortsunabhängig aussuchen.

Diese einmalige Chance nicht verstreichen lassen

Ja, ich kenne alle Bedenken und hab schon zig Artikel und Beiträge mit dem Für und Wider gelesen. Und viele Bedenken mögen auch ihre Berechtigung haben. Dennoch haben wir momentan aus meiner Sicht die größte, wenn nicht sogar die erste und damit historische Gelegenheit, uns zu überlegen, wie die Arbeitswelt von morgen aussehen soll. Und für mich ist es nicht nur eine Chance, sondern auch unsere Verantwortung, dass wir uns den aufgeworfenen Fragen stellen.

Und spannenderweise können wir lokal in den eigenen Teams und Organisationen Dinge verändern, die dann gegebenenfalls riesige Veränderungen für wesentliche Aspekte unserer Gesellschaft bedeuten.

Ich kann mir daher nur wünschen, dass wir diese Chance nicht achtlos verstreichen lassen und es uns gelingt, möglichst Vieles auszuprobieren, darüber zu sprechen und auf diese Weise das eine oder andere Paradigma der alten Welt hinter uns zu lassen. Denn das nächste Level hat gerade begonnen.

*Der Beitrag wurde von Tobias Krüger am 2. September bei LinkedIn geteilt. Hierbei handelt es sich um eine Zweitverwertung mit freundlicher Unterstützung der Otto Group.