Von Norbert Wittmann
Ein Problem dabei ist sicherlich, dass es noch keine allgemein anerkannte Definition von Neuromarketing gibt. Über eine Grundannahme sind sich alle Experten jedoch einig: die meisten Entscheidungen werden sehr stark durch Emotionen bestimmt und sind weit weniger rational, als wir glauben. Dies gilt ganz besonders für das Einkaufen.
Neuromarketing für die Retail-Praxis bedeutet kein Zaubermittel und kann auch keine schwächelnde Sortiments-, Preis-, Mitarbeiter- oder Standortpolitik ausgleichen. Eine warme Farbe kann beispielweise ein zu kaltes und unangenehm fröstelnd empfundenes Raumklima nicht kompensieren. Dennoch sind inzwischen die Ansätze so weit fortgeschritten, dass sich durch vielfältige Möglichkeiten ein deutliches „Emotional Boosting“ entsteht, mit dem man Kunden auf subtile Art ansprechen und begeistern kann. Wichtig dabei ist eine ganzheitliche Sicht des POS, isolierte Ansätze werden oft zu Aufmerksamkeit heischenden Gags ohne nachhaltige Wirkung.
Im Folgenden wollen wir Ihnen die wichtigsten Erfolgshebel vorstellen:
Schritt 1: Die richtige Shopperwelt für die richtige Zielgruppe
Neuromarketing-Aktivitäten müssen sich wie alle anderen Aktivitäten an den Retail Brand-Werten und der Positionierung des Handelsunternehmens orientieren. Die Kernzielgruppen sollten feststehen – oder falls nicht, erarbeitet werden. Sind sie bestimmt, lassen sich in einem Schritt die Limbic Types bestimmen. Hierzu kann in vielen Fällen auf bereits existierende Datenbanken zurückgegriffen werden, in denen die Limbic® Types ausgewiesen werden. Anbieter sind die TdW, Nielsen und microm.
Die verschiedenen Zielgruppen können so mit ihren Werten, Psychogrammen, Einstellungen und Verhaltensweisen, Konsum- und Kommunikationspräferenzen detailliert beschrieben werden. Dies ist die Voraussetzung für die Auswahl der korrespondierenden Shopperwelten. In einen branchenübergreifenden Vergleich hat die Gruppe Nymphenburg für die jeweiligen Zielgruppenschwerpunkte generische Shopperwelten abgeleitet. Diese Shopperwelten werden in insgesamt 7 Dimensionen detailliert beschrieben und bilden gleichsam die Blaupause und Leitlinie für eine zielgruppengerechte Ausgestaltung des jeweiligen POS.
Schritt 2: Shoppers Walk&Feel
Das Einkaufverhalten des Kunden wird maßgeblich durch die eigenständige Verkaufsraum-Erschließung des Shoppers bestimmt. Die Nutzung der Verkaufsfläche, die Verweilqualität und Verweilzeit wird durch Gewohnheit, den konkreten Kaufanlass (Shopping Mission), aber auch durch eine Vielzahl von kaum bewussten Faktoren gesteuert. Das Verständnis des Laufverhaltens und die kundensuchlogische Warenanordnung spielen deshalb hier eine entscheidende Rolle. Die psychologische Forschung hat dazu eine Vielzahl von Fakten ermittelt:
Kunden erschließen einen Verkaufsraum gerne in kleinen Schleifen gegen den Uhrzeigersinn. Zu enge Gänge werden ungern begangen, zu hohe ebenfalls, zu lange Gänge werden nicht durchlaufen. Eine hohe Regaldichte lässt den Durchschnittseinkaufsbetrag pro Zeiteinheit sinken. Verstöße gegen die „Psycho-Logik“ der Warengruppenanordnung führen zu Hin-und Herlaufen, hohen Suchzeiten und Verärgerung. Intensive Studien haben gezeigt, dass es gute und schlechte Verweilzeiten gibt. Einkaufszeit, die mit Suchen und „Herumirren“ verbracht werden, führen zu sinkender Ausgabebereitschaft. Zeiten, in denen man Stöbern, Entdecken, Probieren kann, werden als kurzweilig und animierend erlebt, und steigern die Kaufbereitschaft.
Die dominierende Shopper Mission in der Einkaufsstätte bildet dabei den Gesamtrahmen für den Marktbesuch und die Markterschließung. Leicht nachvollziehbar unterscheiden sich die Anforderungen und das Verhalten bei einem großen Wocheneinkauf erheblich von denen, die bei einer Shopping Mission „next meal“ im Vordergrund stehen (Stichworte: Convenience und Easy Shopping).
Neben der Raumerschließung durch die Wege spielt die shoppergerechte Warengruppenanordnung entlang der mentalen Landkarte des Kunden und die Episoden, die einzelne Abteilungen erzählen, eine entscheidende Bedeutung für das Wohlfühlen des Kunden und einem Gefühl der Vertrautheit mit dem Shop. Die richtige Warengruppenabfolge kann zu deutlichen Umsatzsprüngen „vergessener“ Kategorien führen.
Während die Laufwege, die Hot Spots den meisten Händlern gut bekannt sind, werden Cold Spots und Barrieren im Laufverhalten oft übersehen oder als gegeben hingenommen. Der Abgleich der POS-Realität mit der korrespondierenden Shopperwelt und den Erfahrungswerten aus der Shopper- und Shop-Entwicklungsarbeit gibt bereits erste Hinweise für die Struktur und Erschließung des Verkaufsraums. Der Abbau von Lauf-, Wahrnehmungs- und Warenzugriffsbarrieren führt zu einer Steigerung der Raumnutzung, Steuerung der Frequenz in vernachlässigte Bereiche und einer Erhöhung der Verweilzeit.
Schritt 3: Cues & Codes
„Alles ist eine Botschaft für das Gehirn“ – ist eine Grunderkenntnis des Neuromarketings. Jeder Verkaufsraum sendet eine Vielzahl von Cues (psychologisch: Hinweisreiz oder Warnsignal) die vom Besucher bzw. den Zielgruppen unterschiedlich decodiert werden. Cues werden meist unbewusst in Bruchteilen von Sekunden erfasst und bewertet. Das Gehirn speichert diese Daten als Geschichten ab, als Geschichten mit Symbolen und Bildern und allem, was unsere Sinne unmittelbar stimuliert. Die wenigsten dieser Geschichten sind uns bewusst. Cues am POS müssen die Shopper mit Geschichten füttern und nicht mit Informationen überfrachten. Unser Gehirn hat einen extremen Drang zur Vereinfachung und nach Bestätigung.
Das Nicht-Senden von Signalen geht nicht. Für zielgerichteten Einsatz von Signalen bedarf es zunächst eines Verständnisses, welche unbewussten Emotionen die Wahrnehmungen des Kunden bestimmen. Auf der Basis von strukturierten Tiefeninterviews ist es zuverlässig möglich, unterbewusste Treiber und Barrieren speziell im Umgang mit einer Kategorie, zu identifizieren. Ist das erfolgt, lassen sich diese Erkenntnisse im Rahmen von POS-Maßnahmen gezielt umsetzen.
Die Cues am POS beschränken sich dabei nicht nur auf Plakate, Schilder, Dekorationen, sondern erfassen auch ganzheitliche Reize des Verkaufsraums. Warenpräsentation, Visual Merchandising, Sortimentniveau, Pricing, Ladenbau, CD-Vorgaben wie Farben, Formensprache transportieren komplexe Cues, die die Kunden unbewusst decodieren. Vorstöße dagegen bestraft der Kunde durch „nicht mehr wiederkommen“. Unbewusste Abläufe in unserem Gehirn dagegen treiben uns in die Einkaufsstätten.
Diese Cues entstehen in der Retail-Organisation im Zusammenspiel verschiedener Abteilungen wie Architektur, Marketing, Ladenbau, IT, Deko und Vertrieb. Eine übergreifende koordinierende Shoppermarketing-Abteilung ist nur selten anzutreffen. Die Betriebsblindheit des Betreibers im Retail-Alltag kommt noch dazu. So kommt es teilweise zu widersprüchlichen, negativen, manchmal auch unfreiwillig komischen Ausprägungen.
Die Entschlüsselung der Cues, Ihre Ausrichtung auf Zielgruppenerwartung und Shopperwelten sorgt für einen konsistenten ersten Eindruck und löst eine Zuwendungsreaktion der Shopper aus und die Bereitschaft zu Verweilen.
Schritt 4: Multi-Sensorik
Auf den Kunden im Shop stürmt unentwegt eine Vielzahl von Sinnesempfindungen ein, von denen er nur einen Bruchteil bewusst wahrnimmt. Jeder Händler versucht die Sensorik des Shoppers positiv zu beeinflussen, z.B. über Beleuchtung, Geruch, Musik, bewegte Bilder uvm. In kaum einem anderen Bereich der Ladengestaltung hat die technische Entwicklung solche Fortschritte gemacht. Sensorische Eindrücke können heute sehr zielgerichtet und auch lokal begrenzt hervorgerufen werden, denn es gibt Duftmarketing, POS-Radio, Sound-Duschen, Digital Signage. Die Haptik wird durch Interaktion mit der Ware oder Musterstücken (Tasten, Testen), der Geschmacksinn über Verkostungen angesprochen. Doch viele Sinneseindrücke sind nicht unbedingt beabsichtigt: Musik kann als enervierend empfunden werden, Duft als aufdringlicher Geruch. Doch nicht nur die klassischen fünf Sinne spielen beim Einkaufen eine Rolle. Temperaturempfinden oder das Erleben von Luftfeuchtigkeit kann ebenso unmittelbar Fluchtreaktionen auslösen, wie schlechter Geruch. Die Beschaffenheit des Bodens – vor allem im Zusammenspiel mit einem Einkaufswagen- kann die Verweilqualität und Verweildauer erhöhen oder lassen das Schritttempo beschleunigen. Dazu Elena Haller, Diplom-Psychologin und Multisensory Brand Managerin der Gruppe Nymphenburg:
„Neuromarketinguntersuchungen haben gezeigt, dass, je mehr Sinne im Einklang mit der Marke angesprochen werden, desto höher ist das emotionale Erlebnis für den Shopper“. Leider sehen viele Dienstleister ihr jeweiliges Sensorik-Produkt als die Krönung der Schöpfung an und manche Berater meinen viel hilft viel. Aber nur der fein aufeinander abgestimmte Einsatz der Multisensorik schafft die oben erwähnte multisensorische Verstärkung. Die Voraussetzung dafür ist die Erhebung eines umfassenden multisensorischen Profils des POS und eine Analyse der Interaktion und Erlebbarkeit von Produkten. Die genaue Kenntnis der multisensorischen Tools und die Neutralität gegenüber einzelnen Anbietern sichern ein nachhaltig betreibbares und messbares Multisensorik-Konzept.
Schritt 5: POS-Kommunikation und Interaktion
Neben all den unbewussten Einflussfaktoren versuchen Ladengeschäfte auch ganz „bewusst“ zu kommunizieren. Berater, Servicekräfte an der Theke, Kassierer etc. sind bestrebt, den Kunden in seinen Kaufentscheidungen zu beeinflussen. Und vermitteln neben dem Gesagten eine Vielzahl weiterer Botschaften. Die Kommunikation des Shoppers mit einem Verkaufsmitarbeiter löst Emotionen aus -positive und negative.
Qualifizierte Mitarbeiter kennen deshalb die wichtigsten Kundentypen und deren Signale. In anschaulichen Trainings können Mitarbeiter lernen diese Signale richtig zu deuten und mit ihnen umzugehen. Auch dafür ist die Kenntnis der wichtigsten Hauptzielgruppen des Ladengeschäfts Voraussetzung. Die Ausrichtung der gesamten personellen POS-Kommunikation auf diese Zielgruppen wird mit einem hohen Vertrauenswert belohnt. Die Qualifikation und Professionalität der Mitarbeiter wirkt sich nach den Trust-Studien der Gruppe Nymphenburg als „Bonus-Faktor“ besonders stark auf den Vertrauensaufbau aus und fördert Einkaufsstättenwahl, Einkaufsfrequenz und Weiterempfehlungsrate.
Im Zeitalter der Selbstbedienung kommt jedoch der „stillen“ Kommunikation am POS, beispielsweise durch Auszeichnungen, Hinweis- und Preisschildern, aber auch Digital Signage oder Terminals immer mehr Bedeutung zu. Ihre Wahrnehmung beeinflussen Kundenzufriedenheit und Kundenloyalität, Empfehlungs- und Wiederbesuchsraten, und damit letztlich auch das Vertrauen in eine Einkaufsstätte.
Größe und Art von Preisschildern, gewählte Farben und die Art der Preisdarstellung vermitteln eine Vielzahl von subtilen Botschaften, die in vielen Studien gemessen, auch unmittelbare Auswirkungen auf den Umsatz haben.
Schritt 6: Evaluieren & Messen
So faszinierend die Erkenntnisse von Neuromarketing auch sind, wie jede wissenschaftliche Erkenntnis muss sie sich mit harten Facts belegen lassen. Da neben Neuromarketing eine Vielzahl an Wechselwirkungen zwischen Sortiment, Preis, Wettbewerbsaktivitäten bestehen, sollte eine Vielzahl von Messpunkten und Messmethoden betrachtet werden, um eine kontinuierliche Verbesserung in Gang zu setzen. Die Gruppe Nymphenburg begleitet Emotional Boosting Projekte deshalb mit Erfolgsmessung und Finetuning.
Als Vergleichsmaßstab sollte – soweit kostenmäßig vertretbar – nicht nur ein vorher- nachher Vergleich erfolgen, sondern möglichst auch vergleichbare Kontrollmärkte herangezogen werden. Die folgenden Messmöglichkeiten (siehe Kasten) spiegeln in ihrer Vielfalt auch den multidisziplinären Ansatz des Neuromarketing wieder. Besondere Bedeutung kommen dabei den impliziten Methoden zu.
Wie aufwändig ist das Ganze?
Der Aufwand für eine Emotional Boosting-Projekt ist abhängig von Geschäftsflächengröße, Sortimentsbreite und Untersuchungsschwerpunkten.
Neuromarketing-Projekte erfordern nicht nur viel Erfahrung in Neuromarketing, sondern auch in Shopper Insights und POS-Know-how und vor allem eine gründliche Analyse der Ausgangssituation. Sie haben jedoch den großen Vorteil, dass nicht stets das Rad neu erfunden werden muss, weil sie auf eine Vielzahl bestehender Erkenntnisse zurückgreifen. Wichtig dabei ist es, die verantwortlichen Mitarbeiter in die Sichtweise des Neuromarketing-Ansatzes einzubeziehen und in der gemeinsamen Arbeit mit zunehmen. Nur in der umfassenden Berücksichtigung aller Ansätze liegt der Erfolg. Die Mühe aber lohnt sich.
Nach einer Studie von McKinsey kann das Einkaufserlebnis und der Umsatz einzelner Categories bis zu 60 % gesteigert werden.
Über den Autor: Norbert Wittmann ist Dipl. Psychologe und Vorstandvorsitzender der Gruppe Nymphenburg Consult AG. Sein einzigartiges Wissen rund um den POS macht ihn auf diesem Gebiet zu einem der führenden Experten weltweit und ermöglicht eine umfassende Beratung entlang der gesamten Wertschöpfungskette von der Markenentwicklung bis zur Umsetzung am POS.