Für den „Nationalen Wohlstands-Index für Deutschland“ (NAWI-D) fragte das Marktforschungs-Unternehmen Ipsos im Zeitraum von Juni 2012 bis März dieses Jahres 16.000 Personen in Deutschland danach, was sie unter Wohlstand und Lebensqualität verstehen und wie sie ihre eigene Lebenssituation derzeit einschätzen. „Auch in einem Land wie Deutschland stufen sich große Teile der Bevölkerung am unteren Ende der Wohlstandskala ein“, erklärt Hans-Peter Drews, Managing Director von Ipsos Observer.
Lebensqualität erhalten
Den meisten Deutschen geht es heute gut – aber ihre Zukunft scheint vielen nicht mehr sicher. In Zeiten, in denen sich weltweit Krisenherde ausbreiten, wächst die Sehnsucht der Bevölkerung nach Sicherheit und verändert sich ihre Vorstellung von Wohlstand und Lebensqualität. Drei Viertel der Deutschen (75 Prozent) antworten auf die Frage, was sie unter Wohlstand verstehen: „Keine finanziellen Sorgen haben“. Ganz obenan stehen weiterhin Wünsche nach einem sicheren Einkommen (68 Prozent) und einem sicheren Arbeitsplatz (62 Prozent). Aber auch Werte wie „sich eine gute medizinische Versorgung leisten können“ spielen für gut jeden zweiten Befragten eine Rolle. Opaschowski kommentiert: „Wohlstand hat mittlerweile mehr mit der Erhaltung der Lebensqualität als mit der Steigerung des Lebensstandards zu tun“.
Die Frage „Wovon sollen wir künftig leben?“ ist für viele Bundesbürger bisher unbeantwortet geblieben. Nur 38 Prozent sehen sich in der Lage, für die eigene Zukunft finanziell vorsorgen zu können. In Sachsen (25 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (24 Prozent) ist es nur jeder Vierte. „Nicht nur der Staat, auch die Bürger bilden keine Rücklagen und Reserven für die Zukunft“, sagt Opaschowski.
Hoffnungen erfüllen sich häufig nicht
Drei Viertel der deutschen Bevölkerung erwarten von einem Leben im Wohlstand, keine finanziellen Sorgen zu haben. Doch nur 36 Prozent geben an, aktuell keine Geldsorgen zu haben. Die Verheißungen der Wohlstandsgesellschaft, sich über den Lebensunterhalt hinaus besondere materielle Wohlstandswünsche erfüllen zu können, erweisen sich für 30 Prozent der Bundesbürger als Illusion. Ebenfalls nur jeder Dritte gibt an, „keine finanziellen Sorgen“ (36 Prozent) und „keine Angst vor der Zukunft zu haben“ (38 Prozent).
„Die Wohlstandsgesellschaft entlässt ihre Kinder in eine relativ unsichere Zukunft“, sagt der Zukunftsforscher. Die Wohlstandswende komme im Lebensalltag der Deutschen an. „Die Menschen spüren dies“, erklärt Opaschowski weiter. „Für die nächste Generation wird es in Zukunft viel schwieriger sein, ebenso abgesichert und im Wohlstand zu leben wie die heutige Elterngeneration.“
Auch wenn die Wirtschaft wächst, bleibt das Lager der „gefühlten“ Wohlstandsverlierer über den Erhebungszeitraum seit März 2012 stabil, heißt es in der Studie weiter. Fast jeder vierte Deutsche (23 Prozent) fällt nach Berechnungen aus dem NAWI-D in die Kategorie „niedrig“ beim ökonomischen Wohlstand. „Jeder Fünfte in Deutschland ist nicht arm, aber fühlt sich armutsgefährdet“, erklärt Opaschowski. Die Armutsschwelle bedrohe zunehmend die mittleren Einkommensbezieher, die um den Erhalt ihres Wohlstands bangten. Hochgerechnet leben über 16 Millionen Menschen ab 14 Jahren in Deutschland zwischen Noch-Wohlstand und Schon-Armut. Sie fühlen sich vom Wohlstandsleben zwischen Ausgehen, Shopping und Urlaubsreise weitgehend ausgegrenzt.
Ungleiche Verteilung in Deutschland
Im Bundesländer-Vergleich sind die Gewinner der Wohlstandsverteilung Bayern und Hamburg und die eindeutigen Verlierer Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die Wohlstandskarte Deutschlands lässt dennoch keine Rückschlüsse auf ein mögliches West-Ost-Gefälle erkennen. Denn die Thüringer schätzen sich ähnlich wohlhabend ein wie die Hessen. Und die Bewohner in Mecklenburg-Vorpommern können durchaus einem Vergleich mit den Rheinland-Pfälzern standhalten, weil sie den größten ökologischen Wohlstand in Deutschland aufweisen. Naturnähe und Nachhaltigkeit sind auch jenseits von Arbeit und Brot ein Indikator für Wohlstand und Lebensqualität.
Beschäftigungssicherheit wichtiger als Mindestlöhne
Andererseits liegen geradezu Welten zwischen einzelnen Bundesländern, wenn es um die Sicherheit des Arbeitsplatzes geht. Hier ist eine große Kluft zwischen alten und neuen Bundesländern feststellbar. Hamburger haben die sichersten Arbeitsplätze. Fast zwei Drittel der Beschäftigten in Hamburg machen sich um ihren Arbeitsplatz keine Sorgen. In den ostdeutschen Bundesländern gibt nur gut jeder Dritte an, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Opaschowski erklärt: „Wer um die Sicherheit seines Lebensunterhaltes bangen muss, kann vom Wohlstandsleben nur träumen. Wer in Zukunft mehr Lebensqualität für die Bevölkerung schaffen und sichern will, muss Arbeitsmarktpolitik neu denken: Aus der Sicht der Bevölkerung werden Beschäftigungssicherheiten unter Umständen wichtiger als Einkommenserhöhungen und Mindestlöhne“.
Familie als Lebensversicherung
In Krisenzeiten besinnen sich Menschen vielfach auf das, was ihnen Grundgeborgenheit im Leben gewährt und zum persönlichen und sozialen Wohlergehen beiträgt: das Zusammensein mit Freunden und Familie als nachhaltige Wohlstandsqualität – vor allem dann, wenn Arbeit und Einkommen nicht mehr sicher sind. Laut NAWI-D geben vier von zehn Deutschen gute Familienkontakte als ihre persönliche Wohlstandswunschdefinition an. Und für beachtliche zwei Drittel der Bundesbürger (67 Prozent) ist diese Definition Realität; sie stimmen der Aussage „Ich habe gute Kontakte zu meiner Familie“ zu. Opaschowski hält die Familie, in der man sich sicher fühle, für die beste Lebensversicherung und einen „sicheren Heimathafen“.
Sozialer Wohlstand kann materielle Wohlstandsdefizite abfedern und ausgleichen helfen. So können beispielsweise 80 Prozent der Thüringer von sich sagen: „Ich habe gute Kontakte zur Familie“. Sie sind Spitzenreiter in Deutschland, was die Einschätzung ihrer Familie als realen Wohlstandsfaktor betrifft – bevor die Bayern und Saarländer mit etwas Abstand (je 75 Prozent) folgen. Am Ende rangieren die Bewohner in Baden Württemberg (52 Prozent). „Die Familie schützt vor vielen Armutsrisiken des Lebens und ist so wertvoll wie die Geldanlage. Neben dem Beziehungsreichtum trägt die Familie auch materiell zur Gewinnmaximierung des Lebens bei“, sagt Opaschowski.
Höherer Lebensstandard bei Männern
Frauen heben im Unterschied zu Männern als persönliche Wohlstandswirklichkeit besonders hervor, für andere da zu sein (plus 12 Prozentpunkte), in Frieden mit ihren Mitmenschen leben zu können (plus 5) und gute Kontakte zu ihrer Familie und ihren Verwandten zu haben (plus 3). Wohlstand fängt für Frauen mit dem sozialen Wohlergehen an. Frauen pflegen mehr die Nähe zum sozialen Nahmilieu. Zudem geben relativ mehr Frauen als Männer an, umweltbewusst zu leben (plus 4).
Die Wohlstandswirklichkeit von Männern zeigt eine leichte, aber signifikante Besserstellung im materiellen Bereich. Bei den Werten „gesicherten Arbeitsplatz haben“ (plus 3 Prozentpunkte), ein „sicheres Einkommen haben“ (plus 2) und „Eigentum besitzen“ (plus 2) sind sie jeweils den Frauen gegenüber im Vorteil. Demnach haben Männer einen etwas höheren Lebensstandard, Frauen punkten bei der Lebensqualität. Lebenswichtig ist beides – mit einem Unterschied: Lebensqualität trägt mehr zur Lebenszufriedenheit bei. Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, warum sich Frauen im Leben etwas glücklicher fühlen als Männer.
Wachstum auf breiter Ebene – nicht um jeden Preis
Die „vier F“ – Familie, Freunde, Frieden und Freiheit – bestimmen heute Wohlstand und Lebensqualität in Deutschland. In der Wohlstandswirklichkeit der Bundesbürger ist für 67 Prozent die Familie ein zentraler Anker, es besteht ein guter Kontakt. Fast ebenso viele (62 Prozent) haben gute Freunde, 53 Prozent sind gern für andere da. Dagegen können nur 49 Prozent von sich sagen, einen sicheren Arbeitsplatz beziehungsweise ein gesichertes Einkommen (48 Prozent) zu haben.
Sicher und sozial geborgen, frei und in Frieden mit den Mitmenschen leben zu können – das ist Wohlstand heute und zugleich der größte Reichtum des Lebens für die nächste Generation, belegt die Studie. Voraussetzung dafür sei allerdings Wachstum auf breiter Ebene, jedoch nicht Wachstum um jeden Preis – in Wirtschaft und Wissenschaft, in Natur und Kultur, in der Familie und im sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Das Erhard’sche Versprechen „Wohlstand für alle“ aus den 50er Jahren müsse im 21. Jahrhundert korrigiert werden in eine „Wohlergehen für alle“-Vision.
(Ipsos/asc)