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Der Mann, den das klassische Fernsehen angeblich fürchten soll, ist ein unscheinbarer Typ. Grau meliertes Haar, ein breites Grinsen im Gesicht, 56 Jahre alt und fast immer in Jeans und Sakko unterwegs. Früher diente Reed Hastings im Friedenscorps, bevor er Mathelehrer wurde – und schließlich 2007 dem linearen Fernsehen mit seinem Streaming-Dienst Netflix den Kampf ansagte. „Lineares Fernsehen wird es bald nicht mehr geben, außer im Museum“, lautet nur einer seiner viel zitierten Schlachtrufe. Zumindest eines ist sicher: Sein Erfolg setzt die alteingesessenen TV-Sender unter Zugzwang.
komplett auf das lineare TV-Programm verzichten
Nach eigenen Angaben nutzen derzeit 83 Millionen Abonnenten seinen Streaming-Dienst – die meisten davon kommen aus der heiß begehrten Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen. Das Erfolgsrezept: Netflix präsentiert seinen Nutzern ein vermeintlich besseres Fernsehen mit Inhalten jenseits einer linearen Programmstruktur. Alles ist überall und jederzeit verfügbar. Ein Beispiel? Vor knapp einer Woche hat Netflix vier neue Folgen der US-Kultserie „Gilmore Girls“ freigeschaltet – in 190 Ländern; auf einen Schlag.
Das Angebot von Streaming-Diensten wie Netflix kratzt an der Bedeutung des klassischen Fernsehens. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Studie von Bitkom: Demnach könne sich mittlerweile jeder vierte Nutzer von Streaming-Diensten vorstellen, komplett auf das lineare TV-Programm zu verzichten. Über ein Drittel (35 Prozent) hätte es schon gegen das lineare Fernsehen eingetauscht. Und unter den 14- bis 19-Jährigen geben 63 Prozent der Befragten an, aufgrund von Streaming-Diensten weniger fernzusehen. Ist die Geschichte des klassischen Fernsehens damit auserzählt?
Die Antwort ist ganz klar: jein. Ja, weil auch die etablierten TV-Sender erkannt haben, dass sie besonders das jüngere Publikum im Netz mit flexiblen Angeboten begeistern müssen. Nein, weil von einem Ableben des klassischen Fernsehens keine Rede sein kann, wenn man einen Blick auf die Zahlen wirft.
Opulente und kostspielige Produktionen
Denn von 24 Millionen VoD-Nutzern in Deutschland (so eine Studie von Goldmedia) nutzt ein Großteil (34 Prozent) den Netflix-Konkurrenten Amazon Prime Video – das sind umgerechnet also rund acht Millionen Abonnenten. Zum Vergleich: Allein der „Tatort“ (ARD) lockt jeden Sonntag regelmäßig über zehn Millionen Zuschauer vor den Bildschirm. Ganz davon abgesehen, dass die Streaming-Anbieter – im Vergleich zu den öffentlich-rechtlichen Sendern – keinen bildungspolitischen Auftrag erfüllen müssen und sich daher voll und ganz auf opulente und kostspielige Produktionen wie „House of Cards“ (Netflix) oder „Transparent“ (Amazon Prime Video) konzentrieren können. Ohnehin sollte man die nutzeroptimierten Inhalte kritisch betrachten: Wer ausschließlich die Serien- und Filmstoffe konsumiert, die anhand der persönlichen Vorlieben empfohlen werden, verpasst womöglich Neues, Unerwartetes.
Darüber hinaus hat etwa das ZDF seiner Mediathek gerade eine Generalüberholung – die wohl nicht ganz zufällig wie Netflix anmutet – verpasst. Mit Funk haben die öffentlich-rechtlichen Sender eigens ein Jugendangebot geschaffen. Exklusiv im Netz. Und mit der 40-Millionen-Euro-Serie „Babylon Berlin“ schnitzen ARD und der Pay-TV-Sender Sky zur Zeit an der teuersten Serien-Eigenproduktion in Europa.
Also: Sind Netflix, Amazon & Co. eine Gefahr für das klassische Fernsehen? Sie sind ein Ansporn, vielleicht sogar eine Bereicherung. Denn „Fernsehen im Internet“? Das hat man irgendwie auch den Streaming-Anbietern zu verdanken. Zumal ein täglicher TV-Konsum von rund 233 Minuten in der Altersgruppe ab 14 Jahren (laut einer Erhebung von Statista) das lineare Fernsehen kaum in eine Sinnkrise stürzen dürfte.