Vier der zehn erfolgreichsten Messegesellschaften der Welt kommen aus Deutschland. In Sachen Flächenpräsentation ist Deutschland Weltmarktführer, angeführt von der Messe Frankfurt. „Wenn man sich vor allem die internationalen Zahlen anschaut, machen die Frankfurter einen echt tollen Job“, sagt Dr. Jens Thiemer Vice President Marketing bei Mercedes und seit kurzem im Aufsichtsrat der Messe Frankfurt.
Andererseits erntet die Veranstaltungslandschaft in Deutschland derzeit bei Weitem nicht nur Lob. Verkrustet sei das klassische Messegeschäft und mit ihm auch die angesprochenen Veranstalter. Innovationen finden auf Messen nur noch in zweiter Linie statt, während sie vorher längst im Rahmen eigener Veranstaltungen der Hersteller gefeiert wurden. Und mancher Großmesse schallt die Kritik entgegen, sie sei schlicht langweilig geworden.
Die South by Southwest ist cooler als die DMexco, der Genfer Salon hat das viel schönere Gesamtpaket als die IAA und die CES in Las Vegas nimmt der IFA regelmäßig die spannenden Innovationen weg. „Die CES ist großes und wenig organisiertes Chaos. Und genau das macht den Charme aus“ vergleicht Marc Schumacher, Geschäftsführer von Liganova und sieht im Chaos freiere Marktkräfte und mit ihnen mehr Innovation walten.
Müssen sich die großen Messen verändern?
Noch sind die Zahlen der großen Messegesellschaften gut, aber die Unruhe im Markt ist spürbar. Volvo blieb der IAA fern, die Group M inklusive Deutschlands größter Mediaagentur Mediacom bleib weitgehend der DMexco fern und eine der großen Dialogmarketing-Veranstaltungen, die CoReach gab jüngst bekannt nicht mehr weiter machen zu wollen.
Musik im Markt kommt durch innovative Formate, die meistens von StartUps ins Leben gerufen. Das gilt in der Digitalbranche zum Beispiel für die Online Marketing Rockstars, die Gamescon oder Bits and Prezels aus München. Gleichzeitig rüsten große Hersteller signifikant ihre Kundenveranstaltungen auf. Der Adobe Summit oder die Dreamforce von Salesforce gehören inzwischen zu den Fixsternen im Terminkalender der digitalen Marketer.
Wenn Branchengrenzen verschwimmen
Die deutschen Messe- und Kongressveranstalter erkennen den Bedarf zur Veränderung und rüsten vor allem mit digitalen Tools auf, die zur Kontaktanbahnung oder Leadgenerierung eingesetzt werden können. Professor Manfred Kirchgeorg von der HHL Leipzig ist der Auffassung, dass das nicht der Kern des Problems ist. „Gerade angesichts der digitalen Veränderung in vielen Branchen ändern sich die Geschäftsfelder. Viele Messen und Veranstaltungen sind durch Branchenverbände entstanden. Aktuell sehen wir aber überall, dass die Branchengrenzen verschwimmen. Wir brauchen viel breiter aufgestellte Messekonzepte, die Menschen über Branchengrenzen hinweg vernetzen.“
„In den USA passiert das längst“ sekundiert Jens Thiemer. „Schauen Sie sich an, wie die Automobilbranche die CES erobert hat“. Mercedes hat auf der soeben abgeschlossenen IAA diesen Gedanken der Branchen-übergreifenden Präsentation selbst in die Tat umgesetzt. In einem eigenen Format namens Me Convention Experten und Interessenten zu unterschiedlichen Themen im Umfeld der Mobilität – nicht des Autos – zusammen gebracht. „Der Fokus lag klar auf dem Ansatz Convention, also mehr Austausch als Kongress“, so Thiemer. Vermutlich ist auf Dauer genau das die Aufgabe der Veranstalter, nämlich einerseits Plattformen zu erzeugen, die verschiedene Branchen vernetzen und gleichzeitig Horizontalformate zu definieren, auf denen mehrere Wettbewerber der gleichen Branche zusammenarbeiten. „Denken Sie an das Thema Infrastruktur in der Elektromobilität, das geht uns alle an“, sagt Jens Thiemer, sieht aber bei seinen Branchenkollegen nur vereinzelt Gesprächsbereitschaft für solche Kooperationsmodelle.
War of Talents hat gerade erst begonnen
Manfred Kirchgeorg erkennt hier auch den großen Transformationsbedarf auf Veranstalterseite: „Es fehlt stellenweise an Themenkompetenz, um bessere Kuratierung zu leisten, aber das ist in dieser komplexen Welt auch enorm schwierig.“ Kirchgeorg sieht hier auch die Event-Veranstalter mitten drin im War for talents.
Ioana Sträter, Geschäftsführerin des Neocom-Veranstalters Management Forum ist für ihr Unternehmen da durchaus selbstkritisch: „Es ist uns bisher noch nicht gut gelungen, die verschiedenen Veranstaltungen aus unserem Haus besser zu vernetzen“. Das Thema steht ganz oben auf der Agenda.
Für Marc Schumacher gilt das vor allem auch für die Kongressformate. „Oft werden da nur Standardvorträge in einem Programm hintereinander aufgelistet, es gibt kaum verbindende Klammern und am Ende gehen die Teilnehmer mit der Frage nachhause: Was habe ich eigentlich heute gelernt“. Für Schumacher liegt der Wert der Formate vor allem in der Überraschung: überraschende Inhalte, Kontakte, mit denen man nicht gerechnet hat oder auch Eventerlebnisse der besonderen Art. „Immer mehr Wissen steht auch online zur Verfügung. Was wir in der Messe- und Kongresslandschaft brauchen ist viel mehr Unterhaltung, mehr Happening“.
Digitale Kommunikation ohne virtuelle Messe
Unterhaltung und Kontaktanbahnung wären auch Konzeptelemente, die online schwer ersetzt werden können. Seit Second Life wartet die Event-Branche auf das Aufkommen reiner Onlineveranstaltungen. In praxisnahen Formaten wie Webinaren funktioniert das bereits. Ein gutes Online-Kongressprogramm sucht man im Kalender vergebens. „Das multisensorische Erleben ist nicht durch digitale Technologien ersetzbar“, meint Manfred Kirchgeorg. Und Marc Schumacher sieht nach wie vor technologische Mängel: „Das macht bei dem heutigen Stand der Technik doch noch keinen Spaß“.
Weg von realer Ausstellungsfläche
Bei Mercedes hat man dazu ein differenziertes Bild. Zwar glaubt auch Jens Thiemer kaum an die virtuelle Online-Messe, er sieht aber Technologien wie Virtual Reality durchaus dazu in der Lage, einen Teil des haptischen Produkterlebens zu ersetzen. „Das ist für mich eine lineare Entwicklung. Das kommt“, sagt der Wahl-Stuttgarter. Mercedes sieht das auch als große Chance für den Handel, seine begrenzte reale Ausstellungsfläche digital zu verlängern.
Das wirft die spannende Frage auf, ob die großen Messen und Kongresse allein aus der unmittelbaren lokalen Zusammenkunft in Messehallen weiterhin Kraft schöpfen kann. „Für viele Hersteller sind die Möglichkeiten, ihre Marken multisensorisch zu inszenieren, in klassischen Messehallen nicht mehr zeitgemäß“, meint Manfred Kirchgeorg und stellt die Frage, warum eine IAA immer in Frankfurt stattfinden muss. Zum Überraschungsfaktor könnte auch ein wechselnder Ausstellungsort gehören. „Wie wäre es mit der Messe im Hyperloop oder der fliegenden Konferenz im Flugzeug“, visioniert Thiemer.
Weg vom starren Messealltag
Der Mercedes-Marketer sieht auch einen klaren Trend zu zeitlich begrenzten PopUp-Situationen, die näher am Kunden stattfinden, als im isolierten Messegelände. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass eine ganze Stadt eine Veranstaltung trägt, die an unterschiedlichen Locations gleichzeitig stattfindet“, so Thiemer. Konzepte also, wie die Tech open Air in Berlin, die mit dem starren Messe- und Kongressrahmen brechen und Raum bieten, Disziplinen miteinander zu mischen. Eine spannende Location, offene, innovative Formate und eine funktionierende Plattform zur Vernetzung lauten die Kernbedürfnisse, die Thiemer an das Messewesen formuliert. Angesichts hoher Kosten für Präsenzen auf Leitmessen wie der IAA denkt man in Möhringen durchaus darüber nach, Teilbudgets in alternative Formate fließen zu lassen.
Unterm Strich sind sich allerdings Marc Schumacher, Jens Thiemer, Manfred Kirchgeorg und Ioana Sträter einig, dass der Gesamtbedarf an Informationsveranstaltungen nicht sinken sondern eher steigen wird. Hoffentlich mit mehr Entertainment-Faktor. Die Gala auf der Neocom war bereits lange vor dem Kongress ausverkauft. Das multisensorische Erleben halt.