Wie schlimm ist das Bürokratiemonster?

Nachhaltigkeitsberichterstattung am Limit: Den Überblick in den Berichts- und Nachweispflichten zur Nachhaltigkeit zu behalten, ist nicht einfach. Wie es gelingt und wie man die Erkenntnisse kommunikativ nutzen kann.
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Die Liste der Regulierungen zu den Themen Lieferkette und Nachhaltigkeit ist lang. Da fällt es manchem schwer, noch durchzublicken. (© Unsplash)

Welche Regulierungen gibt es und was bedeuten sie? 

Von den Lieferkettengesetzen auf europäischer und deutscher Ebene dürften alle mitbekommen haben, die Wirtschaftsberichterstattung verfolgen: Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LKSG) regelt Nachweis- und Berichtspflichten für deutsche Unternehmen, insbesondere zur Einhaltung der Menschenrechte. Das Europäische Lieferkettengesetz (offiziell bekannt als Corporate Sustainability Due Diligence Directive CSDDD) sollte dazukommen. Stand jetzt gibt es aber keine Einigung. Dass eine europäische Regulierung zu schlechteren Bedingungen für Unternehmen in Deutschland führen würde, ist dabei aber nicht eindeutig. Die Positionen sind unterschiedlich, wie wir später darlegen. 

Zu den Lieferkettengesetzen kommen weitere Regulierungen zum Thema Nachhaltigkeit: Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) weitet die Pflicht zur Nachhaltigkeitsberichterstattung auf europäischer Ebene aus. Die Berichte werden dabei vor allem stark an konkreten Kennziffern ausgerichtet. Noch im Entwurfsstadium ist die Green Claims Directive (GCD). Anders als bei den anderen Regelwerken stehen bei der GCD Berichtspflichten nicht im Vordergrund – es geht vielmehr darum, Produktversprechen wirklich belegen zu können. So soll Greenwashing vermieden werden. 

Wie schlimm ist es mit der Bürokratie? 

In der Debatte um die Gesetze haben sich gerade Unternehmens- und Arbeitgeberverbände deutlich gegen die Mehraufwände positioniert. Von einem Bürokratiemonster sprach der Mittelstandsverband BMVW beispielsweise in seiner offiziellen Stellungnahme zum LKSG. BMVW-Chefvolkswirt Hans-Jürgen Völz sieht das jetzt auch in der tatsächlichen Umsetzung. So gebe es Fälle, in denen sich Unternehmen bereits aus einzelnen Ländern zurückgezogen hätten, weil Nachweise dort kaum mehr zu akzeptablen Kosten erbracht werden könnten. Vor allem in Afrika gebe es Probleme: „Das hat dann auch eine entwicklungspolitische Komponente. Das wird dort vor Ort nicht zu Wachstum führen – im Gegenteil, bestehende Strukturen verharren länger”, so Völz. 

In der Tat ist die Vielfalt an Regelungen nicht ganz trivial. Markus Löning war früher Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Mittlerweile berät er international zu Menschenrechten und der Verantwortung von Unternehmen. Löning sagt selbst, dass die Berichtspflichten gerade zu Anfang nicht leicht zu überblicken sind. Doch er sagt auch, dass man das gut in den Griff bekomme. Die Diskussionen der Verbände findet er daher teilweise etwas sinnentleert: „Deswegen sollte man sich fragen, wie man die vorhandenen Regeln bestmöglich für sich nutzen kann. Was hat Nachhaltigkeit für eine Bedeutung für mein Geschäftsmodell?” 

Wie wird berichtet? 

Ein Großteil des Aufwands, das sieht auch der Mittelstandsverband so, steckt nicht in der Berichterstattung selbst, sondern vielmehr im Erarbeiten der Nachweise. Beim LKSG erfolgt ein strukturierter Bericht an das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Der Rechtsanwalt Holger Hembach, der ein Buch zum LKSG geschrieben hat, sagt: „Ein Kollege von mir hat das mal in einer Excel-Tabelle heruntergebrochen: Dort wären es 700 Zeilen.” Die Dokumentation, die Basis für die Tabelle ist, sei allerdings ausführlicher. Die Unternehmen hätten jedoch durchaus Spielraum: „Wer sich da ein bisschen Mühe gibt, wird keine Probleme bekommen”, sagt der Jurist. Dazu kommt: Der Aufwand entsteht vor allem initial beim ersten Bericht, wie Hembach erklärt. Später sei dann vor allem nachzuschärfen, beispielsweise weil man mit neuen Lieferanten neue Risiken entdeckt. 

Wie hilfreich wäre ein europäisches Lieferkettengesetz? 

Emotional ist insbesondere die Diskussion, wie hilfreich ein europäisches Lieferkettengesetz wäre, das zumindest bislang unter anderem an der Blockade der FDP scheitert. Markus Löning, selbst FDP-Mitglied, sieht in der europäischen Regelung einen enormen Vorteil: „Die Hälfte der Exporte geht in den Binnenmarkt. Wenn dort überall die gleichen Berichtspflichten gelten, würde das allen helfen.” Außerdem könnte das Gesetz wie die DSGVO auch Standards für andere Märkte setzen. 

Die Regelungen, so Rechtsanwalt Hembach, gehen allerdings tiefer in die Lieferkette. Im LKSG sind die Unternehmen und die direkten Zulieferer im Blick. Auf EU-Ebene ist der Lieferketten-Begriff erweitert: „Bei den europäischen Regelungen ist die gesamte Kette von Aktivitäten im Fokus. Diesen Gesamtüberblick zu bekommen, ist wohl das größte Problem”, vermutet Hembach. Man dürfe dabei aber Schwerpunkte setzen und so weit schauen, wie es möglich ist. Außerdem, so Markus Löning, dürfe man den Fokus auf Hochrisikoländer setzen, was die Arbeit im Vergleich zum LKSG vereinfache. 

In der Debatte ist außerdem ein Argument immer wieder zu hören: Für deutsche Unternehmen wäre eine europäische Regulierung von Vorteil, da sie für gleiche Standards sorgt. Hembach sagt: „Als über das LKSG diskutiert wurde, gab es heftige Diskussionen. Da haben Verbände gesagt, man solle auf das europäische Gesetz warten, damit für alle die gleichen Standards gelten. Jetzt beklagen sich die Verbände, dass sie kein europäisches Gesetz wollen, obwohl es ja mehr zu einem Level-Playing-Field führen würde.” 

BMVW-Chefvolkswirt Völz spricht sich dennoch klar gegen die europäische Regulierung aus: „Deutsche Unternehmen befinden sich im internationalen Wettbewerb. Um ein Level-Playing-Field zu schaffen, bräuchte es eine globale Regelung. Solange es die nicht gibt, können wir das Mehr an Bürokratie nicht gebrauchen.” 

Völz wünscht sich hingegen Initiativen von der EU: „Wenn in Brasilien beispielsweise Regenwald zerstört wird, kann man das nicht den deutschen Unternehmen anlasten, die von dort in gutem Glauben tropische Hölzer aus nachhaltigem Anbau importieren. Wenn die EU beabsichtigt, dass europäische Unternehmen Ressourcen aus Brasilien nur beziehen dürfen, wenn diese unbedenklich gewonnen oder erzeugt wurden, dann muss sie in Verhandlungen mit der Regierung Brasiliens eintreten und ein bilaterales Abkommen darüber schließen.” Und wenn es zwischenstaatliche Abkommen zu Arbeits- und Sozialstandards gebe, sollte aus Sicht von Völz auch die Nachweispflicht für Unternehmen entfallen. 

Green Claims Directive: Wie viel Sinn ergibt eine Lebenszyklusanalyse? 

Wenn auch die Green Claims Directive kommt, entstehen daraus wohl eher Nachweispflichten wie bei der DSGVO. Es gibt also voraussichtlich keine direkten Berichte. Dennoch werden Unternehmen ihre Produktversprechen vor allem basierend auf einer Lebenszyklusanalyse belegen müssen. Dass eine solche nicht immer ganz leicht zu erstellen ist, zeigt sich am Beispiel der vermeintlich nachhaltigen Rucksäcke von GotBag (siehe Absatzwirtschaft aus dem April 2023). BMVW-Chefvolkswirt Völz hält die Methode für nicht zielführend: „Wenn man bei Windrädern den gesamten Prozess von der Produktion bis zum Recycling mit einbezieht […] dann stehen die in der Lebenszyklusanalyse gar nicht mal so gut da. Ich bezweifle, dass sie hier immer ein geeignetes Instrument ist, auch weil es eben technischen Fortschritt gibt. So müsste man die Analyse ständig auf dem letzten technisch-organisatorischen Stand halten.” 

Welche Folgen gibt es für kleinere Unternehmen, die eigentlich nicht berichtspflichtig sind? 

Auch wenn kleinere Unternehmen nicht selbst berichtspflichtig sind, werden sie dennoch Folgen der Gesetze spüren. Anwalt Hembach sagt, dass man das schon jetzt merke: „Viele beklagen sich, dass sie mit Fragebögen regelrecht zugeschüttet werden und von ihren Kunden Druck bekommen, da zuzuliefern. Man merkt dazu allgemeine Verunsicherung. Die Unternehmen denken, dass sie bloß nichts falsch machen dürfen.” Juristische Druckmittel gebe es für die größeren Unternehmen aber nicht. Je nachdem, wer für wen die größere Bedeutung hat, gebe es höchstens die Vertragsmacht als Druckmittel. 

Wie lassen sich die Erkenntnisse kommunikativ nutzen? 

Markus Löning sagt, dass die Fakten aus den Berichtspflichten sehr viel realistischer seien als klassische Marketingaussagen. Gerade deswegen lassen sie sich auch kommunikativ gut nutzen. Auch Holger Hembach stimmt zu, aus seiner Sicht brauche es vor allem gesunden Menschenverstand. Denn die Gesetze könnten tatsächlich Dinge verbessern, auch wenn sie nicht alle Probleme lösen: „Es erwartet aber auch keiner, dass die Unternehmen China auf den Kopf stellen. Dann ist den Uiguren für den Moment noch nicht geholfen, aber wenigstens den Bananenbauern in Südamerika, die Lidl beliefern”, so der Jurist. Und Lidl selbst nutzt die Maßnahmen dann eben auch in der Kommunikation, wirbt beispielsweise in sozialen Medien damit, dass die Lohnlücke geschlossen wird.  

Damit sei der Discounter auch gut beraten, meint Löning: „Unternehmen müssen sich ohnehin anpassen, nachhaltig werden und Menschenrechte einhalten. Thema sollte sein, wie Unternehmen das gelingt und wie Verbände und Politik sie dabei bestmöglich unterstützen können.” Das dann kommunikativ zu nutzen, wird kaum schaden. 

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.