Pro
Prof. Dr. Lutz Becker ist Leiter Business School am Standort Köln und Studiendekan Sustainable Marketing & Leadership Hochschule Fresenius
Technisch hat das autonome Fahren gerade seinen Durchbruch geschafft. Allein die autonomen Fahrzeuge des Google Ablegers Waymo sind 2017 rund 160 Mal um die Erde gefahren. So tragisch jeder einzelne Unfall ist: früher oder später war das statistisch leider zu erwarten. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber, und das ist die wirklich gute Nachricht: man kann ihr immer näher kommen. Niemand wird bestreiten, dass Fliegen in den letzten Jahrzehnten immer sicherer wurde. Jeden Tag sind rund 100000 Flugzeuge um uns herum in der Luft, die Wahrscheinlichkeit zu Schaden zu kommen liegt bei 0,3 Fällen bei einer Milliarde Flugkilometern, die Chance getötet zu werden geht – auch wenn es tragische Einzelfälle gibt – gegen Null. Dagegen ist das Risiko im Straßenverkehr rund 9000 Prozent höher. Während es bei jedem Flugzeugunglück einen berechtigten Aufschrei gibt, nehmen wir mehr als 3000 Menschen, die jedes im Straßenverkehr ums Leben kommen, nahezu sang und klanglos hin. Mehr noch, in mehr als 369.000 Fällen kamen Menschen durch Fehlverhalten von Autofahrern zu Schaden. Zum Vergleich: diese Zahl entspricht in etwa der Zahl der Einwohner einer Großstadt wie Bochum oder Wuppertal. Die wahre Moral des autonomen Fahrens heißt ‚Lernen‘. Nicht nur, dass Computer Alkohol, Drogen, Telefonieren, das Übersehen von Stauenden, Hypoglämie, Testosteronschübe und mangelnde Einsicht nicht kennen. Sie werden mit jedem einzelnen gefahrenen Kilometer besser. Wir kennen das Phänomen bei Google oder Amazon, je mehr und je öfter Menschen suchen, desto besser werden die Ergebnisse. Schaffte 2004 der stärkste Rechner der Welt 36 Billionen Rechenoperationen in der Sekunde, für die er die Fläche einer Turnhalle benötigte, schafft ein moderner Rechner im autonomen Auto pro Sekunde bereits 320 Billionen ‚Deep Learning‘ Operationen. Durch Updates ‚Over the Air‘, wie bei Tesla, wird kein Auto den tragischen Fehler mehr machen, den ein anders Auto zuvor noch gemacht hat. Auch wenn wir wissen, dass wir das Ziel niemals ganz erreichen werden, die Vision Zero, eine Welt ohne Verkehrsopfer, ist ein erstrebenswertes Leitbild, dem wir mit dem autonomen Fahren immer näher kommen.
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Contra
Sebastian Stegmüller arbeitet beim Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, Competence Center Mobility Innovation
Grundsätzlich stellt sich beim autonomen Fahren die Frage, worin genau der (Kunden-)Nutzen der Innovation begründet liegt: Oftmals wird öffentlichkeitswirksam propagiert, dass das vorwiegende Ziel die Erhöhung der Verkehrssicherheit sei, was spätestens seit den letzten Vor- und Unfällen beim heutigen und dem für die nächsten Jahre absehbaren Stand der Technik in Frage gestellt werden muss. Dementgegen sind automatisierte Fahrfunktionen aber vor allem mit erheblichen Komfortsteigerungen für den Fahrzeugführer verbunden, welche mit anwachsendem Automatisierungsgrad noch deutlich zunehmen werden. Es sollte daher diskutiert werden, ob autonomes Fahren als Sicherheitsfunktionen einen gesellschaftlichen Nutzen oder vielmehr als Komfortfunktion einem dem Fahrer zuordenbaren persönlichen Nutzen generiert. Entsprechend müsste eine Bewertung der Innovation weniger aus der gerne angeführten makroökonomischen Sichtweiße als vielmehr aus einer mikroökonomischen geführt werden. Dies wäre für eine beschleunigte Verbreitung automatisierter Fahrzeuge aber keineswegs ein Hindernis, sondern ziegt vielmehr die Chance einer schnellen Diffusion: Schließlich entscheiden in einer freien Marktwirtschaft nicht zuletzt die Konsumenten auf Basis ihres persönlichen Nutzens über den Erfolg einer Innovation.
Pro
Dr. Vincent Aravantinos ist Kompetenzfeldleiter für „Autonome Systeme“ bei fortiss, ein Forschungsinstitut des Freistaats Bayern für softwareintensive Systeme und Services mit Sitz in München
Eine neue Technologie von vornherein abzulehnen, halten wir für falsch. Sie ist weder gut noch böse. Vielmehr kommt es darauf an, was wir daraus machen. Das gilt auch fürs Autonome Fahren. Wir möchten diese Technologie voranbringen, um die Menschen zu entlasten und ihren Komfort zu erhöhen, ohne dabei Abstriche bei der Sicherheit machen zu müssen. Das bedeutet eben nicht, Forschung zu betreiben, weil sie gerade hip ist, sondern Technologien zu entwickeln, denen der Mensch vertrauen kann, weil sie die Gesellschaft weiterbringen. Im Mittelpunkt unserer Forschungsarbeit bei fortiss steht die Software. Heutzutage läuft nichts mehr ohne Software, seien es Aufzüge, Fabrikbänder und eben auch Autos. Unsere Aufgabe als Forscher ist, die Software, die für ein reibungsloses Zusammenspiel zwischen Mikroprozessoren, Sensoren und Aktoren sorgt, so zu entwickeln, dass sie keine Fehler macht und kein Sicherheitsrisiko darstellt. Sollte es dennoch Angriffe von außen geben, müsste das Auto fähig sein, sich selbstständig in einen sicheren Zustand zu versetzen. Bevor jedoch autonomes Fahren realisiert werden kann, liegt noch viel Forschungsarbeit vor uns – entgegen der Aussage prominenter Persönlichkeiten aus diesem Bereich. Bis es soweit ist, entwickeln wir neue Software-Methoden, um sicherzustellen, dass die Gesellschaft autonomen Fahrzeugen vertrauen kann. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die Rolle Europas und hier vor allem Deutschlands ist sehr wichtig. Es mag Länder geben, die kulturell risikobereiter (oder nicht risikobewusst) sind. Für unsere europäische Kultur spielt neben Werten wie Zuverlässigkeit auch die ethische Haltung – andere nicht zu schädigen und das Gemeinwohl im Blick zu haben –, eine große Rolle. Das autonome Fahren ist nur eines von vielen Beispielen für autonome Systeme, also Technologien, die ohne menschlichen Einfluss selbstständig Entscheidungen treffen und möglicherweise in unser Leben eingreifen. Wir sollten die Herausforderung annehmen und diese Technologien gemeinsam gestalten – zum Wohle unserer Gesellschaft. Der andere Teil der Wahrheit liegt also bei uns selbst.