Von Emilio Rappold, dpa
Stephanie öffnet die Brieftasche ohne Gewissensbisse. „Dadurch gehen Arbeitsplätze auch bei uns in Deutschland verloren? Na ja, mir ist mein knappes Geld wichtiger“, sagte die 52-Jährige aus Bayern Ende Mai an der Strandpromenade des Badeortes Sitges im Nordosten Spaniens. Stephanie (Name auf ihren Wunsch geändert) kauft bei einem afrikanischen Straßenhändler gefälschte Turnschuhe eines deutschen Markenherstellers für einen Bruchteil des Originalpreises.
Nur wenige Tage nach dem Schnäppchen der Touristin teilt das Amt der Europäischen Union für Geistiges Eigentum (EUIPO) mit, dass es allein in Deutschland aufgrund von Produktfälschungen mehr als 64.000 Jobs weniger gibt. In elf untersuchten Branchen summiere sich der jährliche Schaden für die deutsche Wirtschaft auf rund 7,2 Milliarden Euro, heißt es in dem am Donnerstag veröffentlichten Bericht. Das entspricht etwa 5,4 Prozent der Umsätze.
60 Milliarden Euro Schaden durch Produktpiraterie
In elf „bedeutenden Wirtschaftszweigen“ entstehen demnach EU-weit jährliche Verluste von bis zu 60 Milliarden Euro. In allen Ländern der Union vernichte die Fälschermafia direkt bis zu 468.000 Arbeitsplätze, ließ die Behörde wissen. Rechtmäßige Hersteller produzierten weniger, als wenn keine Fälschungen auf dem Markt wären, und beschäftigten demzufolge weniger Mitarbeiter.
Die Branche mit den höchsten Umsatzverlusten durch Produktpiraterie in Deutschland ist laut dem EUIPO der Sektor Bekleidung, Schuhe und Accessoires, der jedes Jahr knapp vier Milliarden Euro verliere. Dahinter folgen die Branchen Kosmetika und Körperpflegeprodukte (knapp 1,1 Milliarden Euro), Arznei (knapp 710 Millionen Euro), Smartphones (684 Millionen Euro) und Spielzeug und Spiele (gut 220 Millionen Euro). Untersucht wurden unter auch Sportartikel, Schmuck und Uhren, Taschen und Koffer, bespielte Tonträger, Spirituosen und Wein.
Immer mehr gefälschte Waren importiert
Das Problem habe sich trotz aller Bemühungen zur Bekämpfung der Fälscherbanden in den vergangenen Jahren zugespitzt, hieß es. Die Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums mache nach Schätzungen bis zu 3,3 Prozent des Welthandels aus. Bis zu 6,8 Prozent der EU-Einfuhren bestünden aus gefälschten Waren. Das seien 121 Milliarden Euro pro Jahr. 2016 betrug der Wert der Importe von „Fake goods“ noch 85 Milliarden.
„Was gefälscht werden kann, wird gefälscht“, heißt es in dem EUIPO-Bericht. Es gibt kein Produkt, das gern gekauft wird und das nicht auch als Fälschung angeboten wird, sagen die Experten. Plagiate kann man nicht nur von Luxus-Handtaschen, Uhren oder Parfums zu Spottpreisen bekommen, sondern seit wenigen Jahren auch herkömmlichen Produkten wie Waschmittel oder Zahnpasta, aber auch von Medikamenten, Maschinen und Auto-Ersatzteilen. Nicht selten zahlen Kunden aber auch viel Geld und merken nicht, dass sie eine Fälschung erworben haben.
Gefälschte Arzneien sind besonders gefährlich
Die Fälschungen sind von den Originalen oft kaum zu unterschieden. Kunden wie Stephanie sparen aber nicht nur, sie gehen auch Risiken ein. Die tolle Designersonnenbrille etwa, die es beim Senegalesen in Sitges spottbillig gibt, bietet wahrscheinlich keinen optimalen Schutz für die Augen. Besonders gefährlich sind gefälschte Arzneien. Diese hätten nicht nur wirtschaftliche Konsequenzen, warnte EUIPO schon vor einiger Zeit. „Die Fälschungen können giftig sein und stellen eine große Gefahr für die Gesundheit dar“, hieß es.
Die Produktpiraten sind nach Angaben der Experten vor allem in China, aber auch in Indien und der Türkei aktiv. Der übermäßig hohe Wert, milde Urteile und hohe Kapitalrenditen seien große Anreize für diese kriminellen Banden, stellt EUIPO fest. „Die Vorgehensweise dieser Banden wird im Zuge der Entwicklung von Technologien und Vertriebskanälen zunehmend komplexer, und auch die Bandbreite der Produkte, die gefälscht werden, wird immer größer.“
Früher wurden die gefälschten Produkte fast ausschließlich in großen Schiffscontainern nach Europa gebracht. Seit kurzem sind Fälscher dazu übergegangen, deutlich kleinere Packungen, dafür aber in wesentlich höherer Zahl zu verschicken. Den Zollbehörden wird so die Arbeit erschwert, da sie keine größeren Ladungen auf einen Schlag sicherstellen und zerstören können.
Produktpiraten nutzen zunehmend Bahnverbindungen
Weitere relativ neue Strategien: Die Fälscher benutzen für den Transport zunehmend Bahnverbindungen zwischen Europa und Ostasien. Außerdem werden die gefälschten Waren inzwischen häufig als No-Name-Artikel in die EU gebracht. Die Kennzeichnung der Produkte mit den separat verschickten Logos und Trademarks erfolgt erst, sobald die Güter sich innerhalb des Binnenmarktes befinden.
Dass Menschen wie Stephanie und Zehntausende mehr zu Kunden der „Piraten“ werden, habe nicht nur mit den niedrigeren Preisen und der leichten Zugänglichkeit zu tun, so EUIPO – sondern auch mit dem immer noch „geringen Grad an sozialer Stigmatisierung“. Daher fordert die Behörde neben mehr grenzübergreifenden Ermittlungen und besserem Training für die Beamten auch Kampagnen, um das öffentliche Bewusstsein zu schärfen.