Als Corona im Frühjahr 2020 die Weltwirtschaft und das gesellschaftliche Leben zum Erlahmen brachte, begannen auch die Menschen innezuhalten. So haben sich viele die Frage gestellt, ob ihre Arbeit sie tatsächlich erfüllt. Dass erstaunlich viele Beschäftigte seit der Pandemie ihren Job gekündigt haben, deutet darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. Doch nicht nur die Sinnfrage hat zu einer Kündigungswelle beigetragen: Viele Arbeitnehmer*innen fühlen sich von ihren Arbeitgebern schlicht im Stich gelassen.
Zu diesem Ergebnis kam die aktuelle Umfrage „Engagement Index 2021“ des Meinungsforschungsinstituts Gallup. Darin wurde deutlich: Noch nie war die Bereitschaft zum Jobwechsel unter deutschen Beschäftigten so hoch wie derzeit – und erstmals noch höher als in den USA. Dort rollt derzeit eine riesige Kündigungswelle durchs Land, die Experten „Great Resignation“ oder „Big Quit“ nennen. Jene große Resignation könnte nun auch deutsche Unternehmen treffen, womit viele Talente zur Konkurrenz abwandern oder gar dem Markt entsagen könnten. Daran wären viele Unternehmen selbst schuld, denn sie haben lange eine Dimension vernachlässigt, die deutschen Arbeitnehmer*innen immer wichtiger wird: ihre mentale Gesundheit.
Für Bernadette Frech ist auf diesem Gebiet noch viel zu tun. Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin ist Gründerin der Online-Therapieplattform Instahelp, die das sensible Thema psychologische Hilfe bei Burn-out, Panikattacken oder Depressionen in digitaler Form anbietet. „Was wir sehen, ist, dass Arbeitnehmende ganz konkret Mental-Health-Angebote fordern. Für viele reichen der klassische Obstkorb und das Fitnessstudio nicht mehr, um mit den vielen Unsicherheiten, Dynamiken und Mehrfachbelastungen des jetzigen Arbeitsalltags zurechtzukommen.“
Ein Problem, mit dem viele Mitarbeitende derzeit hadern: Viele Arbeitgeber wollen wieder zu ihrem gewohnten Alltag zurückkehren. „Wenn Unternehmen flexibles Arbeiten erschweren, wird wiederum das Gefühl der Einschränkung in der Selbstbestimmung erzeugt und der Wunsch nach einer beruflichen Neuorientierung gefördert“, so Frech. Möglichkeiten wie Homeoffice seien also gefragt, aber auch das persönliche Zusammenkommen sei Mitarbeitenden sehr wichtig geworden. „Wir haben eine Studie zu virtuellem Führen im Homeoffice durchgeführt, in der sich bei den Erwartungen der Mitarbeitenden zwei Punkte herauskristallisierten: der Wunsch nach regelmäßigem Kontakt und gesunde Arbeitsbedingungen.“
Dazu zählt Frech, dass Erreichbarkeiten begrenzt sind und ausreichend Zeit für Erholung geschaffen wird. Gerade im Homeoffice würden Arbeit und Freizeit leicht verschwimmen. „Dafür braucht es klare Regelungen und die Kommunikation der gegenseitigen Erwartungen. Führungskräfte haben auch online eine Vorbildwirkung. Auch sie sollten auf die persönlichen Erholungsphasen achten, um die Gesundheit der eigenen Mitarbeitenden zu unterstützen“, sagt die Expertin.
Bei mentaler Gesundheit sind Unternehmen in der Pflicht
Psychische Erkrankungen wie Burn-out oder Depressionen gehören immer noch zu den Tabuthemen in der Arbeitswelt: So trauen sich 39 Prozent der Betroffenen nicht, offen über ihre Erkrankungen am Arbeitsplatz zu reden, fanden das Berufsnetzwerk LinkedIn und YouGov in einer Studie heraus. Gallup zeichnet hierzu ein ähnliches Bild: Zwar würden 58 Prozent der Arbeitnehmer*innen ihre psychischen Probleme mit Vorgesetzten besprechen, trotzdem sei die aktuelle Burn-out-Quote auf 35 Prozent gestiegen (2019 lag sie noch bei 26 Prozent). Von den Befragten hätten sogar 38 Prozent angegeben, dass sie in den vergangenen 30 Tagen das Gefühl hatten, gestresst und ausgebrannt zu sein. Zahlen, die Unternehmen alarmieren sollten, schließlich sind sie laut Fürsorgepflicht dazu verpflichtet, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen zu schützen.
„Diese Zahlen spiegeln tatsächlich die Lage der EU-weiten Situation wider und zeigen uns dringenden Handlungsbedarf auf“, sagt Frech. Jedes Unternehmen müsse an diesem Punkt individuell ansetzen. „Im Wesentlichen geht es aber darum, den Menschen zu zeigen, dass sie wahrgenommen und ihre Bedürfnisse und Probleme ernst genommen werden.“
Die Folgen von anhaltendem Stress und das Gefühl fehlender Wertschätzung spiegeln sich nicht nur bei den Betroffenen selbst wider, sondern auch in der Volkswirtschaft. Eine internationale Studie des von der EU unterstützten Forschungsprojekts „Mental Health Promotion and Intervention in Occupational Settings“ kam zum Ergebnis, dass psychische Erkrankungen bis 2030 weltweit wirtschaftliche Auswirkungen in Höhe von 5,9 Milliarden Euro haben könnten. „Führungskräfte sollten Informationen darüber erhalten, wie sie mit Depressionen, Angstzuständen oder anderen psychischen Problemen bei Mitarbeitenden umgehen können“, konstatiert die Studie. Doch reicht das?
Führungskräfte wissen wenig über mentale Gesundheit
Frech sieht hier Nachholbedarf bei den Unternehmen: „Das Basiswissen von Führungskräften rund um die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz ist ein wesentlicher Faktor, um Warnsignale auch rechtzeitig wahrzunehmen. Um konstruktiv handeln zu können, müssen jedoch präventive Strategien rund um das mentale Wohlbefinden in Organisationen implementiert werden.“ Wenn psychische Probleme erkannt werden, brauche es klare Maßnahmen im Unternehmen und konkrete Anlaufstellen für professionelle psychische Hilfsangebote. „Zum einen sind Maßnahmen erforderlich, um Führungskräfte gut zu schulen, und zum anderen aber auch Strategien, damit Unternehmen jene Mitarbeitenden erreichen, denen es nicht gut geht und die sich aufgrund der Stigmatisierung vor Hilfsangeboten verschließen.“ So könnten Unternehmen dafür sorgen, dass ihre Mitarbeitenden nicht auf der Welle der Resignation mitschwimmen und sogar für potenzielle Bewerber*innen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Denn die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz hat einen entscheidenden Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg. „Das bezieht sowohl den Produktivitätsverlust als auch die steigenden Krankenstände aufgrund psychischer Belastung ein“, sagt Frech.