Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Klimawandel, Mobilitätswende, Fachkräftemangel, New Work – der Druck auf Unternehmen zur Transformation wächst von allen Seiten. Gleichzeitig aber wächst bei vielen Arbeitnehmenden die Verunsicherung. Die einen brauchen also dringend Veränderungen, die anderen wünschen sich oft genug die Bewahrung des Status quo. Keine gute Ausgangslage.
Eine vom Handelsblatt Research Institute durchgeführte Studie benennt als „größte Transformationsherausforderungen, bei denen Mitarbeiter eine Rolle spielen“, vier Punkte: fehlende Offenheit für Neues, veraltetes Mindset, Risikoaversion und Unwissenheit. Eine ziemlich heftige To-do-Liste also, die Transformator*innen zusätzlich zu den fachlichen Veränderungen im Unternehmen bewältigen müssen.
Trotzdem oder gerade deshalb ist es keine Option, Transformationsprozesse ohne Rücksicht auf Sorgen und Ängste der Menschen anzustoßen und ohne deren Ideen und Stärken konsequent einzubinden. „Menschenzentrierte Transformationsprozesse haben deutlich höhere Erfolgschancen als Transformationen, in denen der Fokus nur auf fachliche Ziele gelegt und der Mensch außer Acht gelassen wird“, sagt Heidi Hofer. Als selbstständige Beraterin für HR-Transformation berät Hofer viele namhafte Unternehmen, zuvor war sie HR-Managerin unter anderem bei Amazon und Apple.
Auch Eliza Manolagas sieht den Menschen im Mittelpunkt. Als Agile Consultant der ING Deutschland hat sie seit 2018 die Transformation der Bank in neue Unternehmensstrukturen und agile Arbeitsweisen begleitet. Ihr Fazit heute: „Sie können Strukturen und Organisationsformen verändern, aber um wirklich erfolgreich zu sein und zu bleiben, müssen die Menschen, also die Mitarbeitenden, das Konstrukt – in unserem Falle die ,Agilität‘ – mit Leben füllen.“
Man ahnt es: Ohne konsequente Strategie, klare Prozesse, Empathie, Ausdauer und entsprechend große personelle Ressourcen sind solche Mammutaufgaben nicht zu lösen – schon gar nicht konzernübergreifend und über alle Fachbereiche.
Belegschaft von Betroffenen zu Beteiligten machen
Beispiel BMW Group: Der Automobilkonzern befindet sich derzeit im größten Transformationsprozess seiner Geschichte. Neue Antriebstechnologien, neue Mitbewerber, Digitalisierung und KI fordern die Bayerischen Motorenwerke wie die gesamte traditionelle Automobilindustrie seit Jahren massiv heraus. Transformation ist für BMW längst so etwas wie der Normalzustand. Geleitet wird das Transformationsmanagement des Konzerns von Elke Sonak und Thomas Sauer, die sich den Führungsjob in einem „Joint Leadership“ teilen.
Fragt man die beiden nach ihrem Rezept für gelingende menschenzentrierte Transformation, sagt Sonak: „Um keine technologischen Entwicklungen und Trends zu verpassen, ist es wichtig, im Transformationsmanagement eine ,Mehrperspektivität‘ zu verfolgen.“ Dabei brauche es einen Orientierungsrahmen, der sicherstellt, dass die Fachbereiche als integraler Bestandteil im Transformationsprozess gesehen werden. „Wenn man die Teams für den Veränderungsprozess begeistern kann, werden sie sich weniger versucht fühlen, den Veränderungen mit Widerstand zu begegnen, und sind Multiplikatoren für die Transformation ins Unternehmen hinein.“
Ihr Kollege Sauer ergänzt: „In der Anfangsphase sollte man die Energie auf eine gemeinsame Ausrichtung und die Einbindung aller Prozesspartner fokussieren.“ Es gehe darum, die gesamte Belegschaft von Betroffenen zu Beteiligten zu machen: „Stiften Sie Sinn und überlegen Sie sich, wie Sie die ,Mitmach-Ambitionen‘ aller gezielt stärken können.“ Am besten gelinge das, indem man sich „traue, mit traditionellen Denkmustern zu brechen und bewusst die Perspektiven der unterschiedlichen Protagonisten im Transformationsprozess einzunehmen“.
Auch bei der ING Deutschland hat sich eine phasenweise Umsetzung der Transformation bewährt. Sie zielte darauf, alle Stakeholder einzubinden und deren oft sehr unterschiedliche Ansprüche und Informationsbedürfnisse zu adressieren. Das heißt auch: Learning on the flow. Denn wenn Menschen bewegt und begeistert werden sollen, bringt es nichts, am einmal festgelegten Plan festzuhalten. ING-Managerin Manolagas: „Wir haben die Transformation in drei Wellen durchgeführt und haben in jeder Phase die Learnings mitgenommen und Dinge verändert. Durch die iterative Vorgehensweise konnten wir gut reagieren und adaptieren, wenn etwas nicht angenommen wurde.“
Ein umfassender Transformationsprozess ist also kein Sprint, sondern ein Marathon. Ausdauer und Durchhaltevermögen sind für das nachhaltige Gelingen essenziell. Nicht nur, weil es schlichtweg Zeit braucht, um Veränderungen in Unternehmen um- und durchzusetzen. Sondern vor allem, weil es bei ernst gemeinter menschenzentrierter Transformation lange dauert, die Mitarbeitenden so intensiv einzubinden und zu informieren, dass sie das Neue als das neue Normale empfinden. „Es benötigt Zeit, bis sich eine Veränderung in der DNA des Unternehmens wirklich verfestigt“, sagt Manolagas. Oder wie es BMW-Managerin Sonak ausdrückt: „Gelebte Veränderung wird getragen durch neue Muster, und neue Muster entstehen durch stete Wiederholung.“
Transformation ist Chefsache
Genau deshalb ist menschenzentrierte Transformation Chefsache. Ohne den Rückhalt des C-Levels kann es nicht funktionieren. Das Top-Management gibt dabei nicht nur die fachliche Richtung vor und treibt die Entwicklung voran. Es muss den Transformatoren auch im wahrsten Sinne den Rücken stärken, wenn Probleme auftreten oder Entscheidungen korrigiert werden müssen. Und in seiner Funktion als Role Model muss das Führungsteam die angestrebten Veränderungen konsequent vorleben. BMW-Managerin Sonak: „Die Führungskräfte müssen im Rahmen dieser Veränderungsprozesse aktiv als Vorbild auftreten, ihre Botschaften müssen nach innen und außen klar und nachvollziehbar sein. Wir verändern die BMW Group mit unseren Mitarbeitern – nicht ohne sie, nicht gegen sie und nicht über sie hinweg.“
Deshalb ist bereits bei der Kommunikation ein langer Atem gefragt. HR-Beraterin Hofer weiß aus ihrer jahrzehntelangen Beratungspraxis: „Einer der größten Fehler in der Change-Kommunikation ist, einmal top-down die Neuerung zu kommunizieren und dann davon auszugehen, dass jeder verstanden hat, was zu tun ist.“ Eine Grundregel laute jedoch: „Die Information muss siebenmal geteilt werden, bis sie wirklich verstanden wurde.“
Keine so klare Formel gibt es indes für die Frage nach der perfekten Orchestrierung der für den Transformationsprozess verantwortlichen Fachbereiche. Die richtige Lösung ist so individuell wie die jeweilige Aufgabe, jede Transformation braucht eine individuelle Orchestrierung der Verantwortlichkeiten.
Bei der agilen Transformation der ING etwa hatte zwar die Strategie den Hut auf. Darüber hinaus waren in den Veränderungsprozess neben HR und Kommunikation aber auch Vertreter aus dem Business, der IT, dem Projektmanagement und dem Risk-Bereich involviert. „Für einen ganzheitlichen Blick sollte man Menschen aus unterschiedlichen Bereichen integrieren. Insbesondere bei der Einführung von agilen Arbeitsweisen geht es ganz stark um Kundenorientierung und die Optimierung der Delivery von Produkten oder Services“, so Manolagas. In der Spitze hätten bei ING um die 50 Kolleg*innen aus unterschiedlichen Bereichen mitgearbeitet.
Bei der BMW Group hingegen liegt der Lead meist bei HR und Kommunikation. Transformations-Expertin Sonak: „Wir sind der festen Überzeugung, dass eine Transformation nur gemeinsam gestemmt werden kann. Nur wenn Personalwesen und Kommunikation sehr gut synchronisiert sind, entsteht dieses gleichgerichtete Bild, das essenziell für den Transformationsfahrplan ist.“