von Oliver Schauss, Head of Qualitative Research, Icon Added Value
Gruppendiskussionen waren und sind der erfolgreiche Klassiker im Werkzeugkasten der qualitativen Marktforscher. Der Boom der letzten Jahre lässt sich nicht nur in der gestiegenen Zahl der Studien feststellen. Auch Quantität und Qualität der Studios in den deutschen Großstädten hat deutlich zugelegt: Kundenräume der neuesten Generation im mittlerweile unvermeintlichen Lounge-Charakter, das Catering wird immer exquisiter, multimediale Ausstattung, Kinobestuhlung und wandgroße Einwegspiegel gehören zum Standard. Brot und Spiele für die Kunden: Fokusgruppen als Showroom der Marktforschung! Doch spiegelt sich das auch in der qualitativen Forschung wider? Wie sieht es mit dem Qualitätssprung in der Methodik aus?
Die Fokusgruppe ist tot – es lebe die Fokusgruppe
Die Vorteile der primären qualitativen Marktforschung (v.a. Fokusgruppen, aber auch Tiefeninterviews) liegen erst mal auf der Hand: konsumentennah – nur durch die Scheibe getrennt, schnell – erste Ergebnisse liegen unmittelbar vor, flexibel – kein starrer Fragenkatalog, und interaktiv – Dialogfähigkeit und Adaption der Inhalte. Also: qualitative Forschung ist eine effiziente und unmittelbare Art, seinen Markt, seine Kunden und die Konkurrenz kennenzulernen, zu verstehen und Handlungsfolgen für Strategie, Marketing-Mix und Kommunikation abzuleiten.
Aber: die Fragestellungen der Kunden im Marketing, Marktforschung, Vertrieb, Business Development oder in Forschung & Entwicklung werden zunehmend komplexer, die Forschungsaufgaben immer spezifischer. Diese Anforderungen werden an die Marktforschungsinstitute weitergetragen: Verständnis für die Erlebniswelt von immer spitzeren Zielgruppen, deren Verhalten und Bedürfnisse, Identifikation von neuen Märkten und Absatzpotenzialen, Entwicklung & Überprüfung von innovativen, differenzierenden Neuprodukten mit überzeugenden Kundenvorteilen, sowie konkrete Handlungsanweisungen für Produkte und Marken in zunehmend fragmentierten Märkten.
Standardisierte Methoden und eindimensionale Untersuchungsdesigns (à la „Da machen wir mal schnell vier Fokusgruppen…“) zeigen da schon mal Ermüdungserscheinungen. Es besteht die Gefahr, nicht wirklich etwas Neues oder Relevantes zu erfahren. Deshalb bedarf es einer aufgabenbezogenen Adaption der Untersuchungsmethoden, um zu differenzierenden und bedeutsamen Erkenntnissen zu gelangen.
Lebendigkeit und das unmittelbare Erleben des Konsumenten ist und bleibt der Kernnutzen der qualitativen Marktforschung. Die Verwendung multimedialer Technologien, Methoden die unverbrauchte Quellen einbeziehen sowie eine aktivere Rolle des Konsumenten in dem Forschungsprozess helfen uns, die Wirklichkeit des Lebensumfeldes und den Umgang mit Produkten und Services besser abzubilden und damit zu verstehen.
Die noch stärkere Einbindung der Kundenseite ist eine weitere Folge der gestiegenen Ansprüche und der Komplexität. Gerade wenn es um mehrstufige Projekte im Bereich Markenpositionierung oder Produktentwicklung geht, ist die enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Marktforschungsinstitut und Kunden ein Gewinn für beide Seiten: auf Kundenseite ein erhöhtes ‚buy in’ für das Projekt und implizite Handlungsfolgen, auf Institutsseite längerfristige, engere Beziehungen und mehr Raum für Beratung und Implementierung.
Von Experten lernen
Gerade in Innovations- und Positionierungsprozessen ist es notwendig, unterschiedliche Wissensquellen anzuzapfen und mögliche ‚blind spots’ auszuschalten. Die Auswahl und Kombination dieser Quellen hängt ab vom Produktsegment, Markt- und Wettbewerbssituation des Unternehmens – und natürlich: von Zeit und Budget.
Zu Beginn ist es oft hilfreich, und eine seit jeher bewährte Methode bei Unternehmensberatern, sich erst mal im Unternehmen selbst bei internen Experten umzuhören, um Wissen, Daten und Ideen zu sammeln und zu kondensieren. Solche qualitativen Stakeholder-Interviews verhindern auch, dass gerade in großen, weit verzweigten Unternehmen ein Projekt schnell ausgetretene Pfade einschlägt und zu Ergebnissen führt, die bei Kollegen schon seit Jahren in der Schublade liegen.
Neben den internen Sachkennern können externe Experten für Inspiration und neue Denkansätze sorgen. Für ein Innovationsprojekt des Tiefkühlkost-Marktführers iglo konnten eine Reihe von Experten aus den Bereichen Trendforschung, Catering, Szenegastronomie und Ernährungswissenschaften gewonnen werden, um gemeinsam über neue Ideen und Tendenzen im Bereich Ernährung und Tiefkühlkost zu diskutieren und Konzepte zu bewerten.
Ein weiteres Beispiel für die Beschleunigung von Erkenntnis- und Ideenprozessen durch Experten-Workshops ist eine Innovationsstudie von Added Value für Levi’s ®, bei der ein junger Modedesigner mit seinem Statement über die Wichtigkeit der Passform von Jeans einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung der Engineered-Jeans gesetzt hat.
Von Kochgestik und Muttersorgen
Neben den indirekten Methoden, die uns etwas über den Kunden, sein Verhalten und der Nutzung von Produkten vermitteln, ist der Konsument selbst die unmittelbare und reichhaltigste Wissens- und Inspirationsquelle. Doch wie manchmal zu erfahren sind Wort und Tat nicht immer deckungsgleich. Die nicht-biotische Befragungssituation in Interview oder Gruppendiskussion trübt den ungefilterten Blick auf den Verwender.
Eine derzeit populäre Möglichkeit, sich Konsumenten in ihrem ‚wahren’ Lebensumfeld zu nähern und so die Distanz zwischen Sagen und Handeln zu verkleinern, sind Ethnographische Interviews. Im Methoden-Mix stellen sie einen belebenden Bestandteil des Consumer Insights dar. Um möglichst authentische ‚Einsichten’ zu gewinnen, ist das Interviewerverhalten eher reaktiv und beobachtend – er ‚taucht’ in die Lebenswelt des Konsumenten ein und erlebt mit ihm den Alltag: beim Einkaufen, beim Kochen, beim Tisch decken, beim Putzen.
Durch den Perspektivenwechsel wird man Zeuge von Szenen, die im Teststudio verborgen bleiben: eine unbewusste Geste, ein verzweifelter Blick, die Art, eine Verpackung aufzureißen. So bekamen wir im iglo-Projekt wertvolle und tiefgehende Einblicke in Haushalte, Einkaufskörbe, Kochrituale und Muttersorgen.
Die Stärken gegenüber klassischen Interviews und Fokusgruppen sind mehr Authentizität, mehr Erkenntnis über Verhalten und Rituale, mehr Lebendigkeit und Anschaulichkeit. Eine Digital-Kamera, MP3-Player und/oder Videokamera zeichnen den Alltagsablauf auf und werden dabei sehr diskret und sensibel vom Interviewer eingesetzt.
Die Ergebnisse vermitteln zum Beispiel Produktentwickler und Designer auf sehr plastische Weise wer was wie und warum verwendet. Auch für Schulungen im Vertrieb oder dem Dienstleistungssektor können Studienergebnisse auf Basis ethnographischer Interviews anschaulich Kundenbedürfnisse und Nutzungsbarrieren vermitteln. Nachteil: die Analyse der diversen schriftlichen und audio-visuellen Aufzeichnungen ist zeit- und kostenaufwendig. Deshalb kann Ethnographie den qualitativen Forschungsprozess hervorragend ergänzen, ist aber isoliert nur bedingt einsetzbar.
Qualitative Teilnehmer: raus aus der Komfortzone
Als eine weitere Verfeinerung und Vertiefung der Ergebnisse von qualitativen Interviews und Gruppendiskussionen haben sich vorgelagerte Aufgabenstellungen erwiesen. Beim Casting der Teilnehmer wird vereinbart, sich bereits im Vorfeld mit einem bestimmten Thema zu befassen. Das bedeutet: statt ausschließlicher Reaktion auf Fragen und Stimuli erfolgt ein aktives Auseinandersetzen mit Produkt, Umfeld und Bedürfnissen.
Der Einsatz solcher Hausaufgaben kann auf Projekt, Kunde und Industrie ganz individuell abgestimmt werden: zum Beispiel wie sehen Hautpflegerituale über das Jahr aus, oder wie hängen Kochanlässe und Koch-Verfassungen zusammen, oder einfach: Welches sind die persönlichen ‚Himmel & Hölle’ Erlebnisse beim shoppen. Spannend wie aufschlussreich ist es auch die Befragten zu bitten, mit der Digitalkamera eine Woche lang ein Fototagebuch zu führen – oder mal für eine Woche auf bestimmte (Lieblings-) Produkte zu verzichten und die emotionalen Folgen dieser Deprivation festzuhalten.
Somit wird der Teilnehmer der Studie selbst zum Forscher und macht dabei auch durchaus neue Erkenntnisse („Mir war gar nicht bewusst, auf was ich alles achte, wenn ich einkaufe!“). Diese Erfahrungen werden in sogenannten scrapbooks (engl.: Skizzenbücher) oder Tagebüchern multimedial dokumentiert und idealerweise einige Tage vor dem Interview/ der Diskussion zurückgesandt. Der Moderator kann sich damit schon früh ein Bild von den Teilnehmern machen, um gleich zu Beginn auf deren Bedürfnisse und Einstellungen flexibel eingehen zu können. Zudem bieten die Vorarbeiten eine hervorragende Basis für die lebendige Ausgestaltung des abschließenden Berichtes. Und die Originale machen bei der Präsentation gerne die Runde bei den Zuhörern.
Kritische Geister sehen hier eine Pre-Konditionierung der Teilnehmer. Es ist tatsächlich zu vermeiden, den Auftraggeber und den eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu früh zu enthüllen – auch aus Vertraulichkeitsgründen. Jedoch ist die Katalysatorfunktion und der Wissensvorsprung für den eigentlichen qualitativen Teil nicht von der Hand zu weisen.
Blogs & Bulletin Boards – Mixed Mode in der qualitativen Mafo
Auch in der qualitativen Marktforschung bekommt das Internet derzeit seine zweite Chance – allerdings durch die schlechten Erfahrungen des ersten Booms etwas zurückhaltender als dies derzeit bei der quantitativen Marktforschung zu beobachten ist. Gerade bei schwierig zu erreichenden Zielgruppen und die weit verbreitete Begeisterung vor allem Jugendlicher, ihre Persönlichkeit in Communities wie Facebook öffentlich zu machen, bietet das Netz Chancen, das Individuum stärker in den Vordergrund zu stellen, Teilnehmer zu aktivieren und zu motivieren.
Bulletin Boards und Konsumentenblogs in der qualitativen Marktforschung sind ein thematisches virtuelles Pinbrett mit einer bunten Bandbreite an Informationen, die interaktiv erlebbar, individuell sowie inhaltlich schnell sind. So können sich schon vor einer Gruppendiskussion Jugendliche über ihre persönlichen Modestile austauschen, Erfahrungen mit biologisch-nachhaltigen Getränken werden audio-visuell ausgeschmückt, oder man diskutiert über das Pro und Contra neuer Colorationsprodukte. Für Kunde und Moderator wiederum eine gute Vorbereitung und Einstimmung auf Stimmungen und Meinungen.
Viele ‚Sprungbretter’ für den Dialog mit Konsumenten
Die adaptive Kombination dieser direkten wie indirekten Methoden qualitativer Marktforschung stellen Möglichkeiten dar, unmittelbarer und näher an Verhalten und Empfindungen von Konsumenten teilzunehmen. Eine stärkere Aktivierung und höheres Involvement der Teilnehmer erhöht die Informationsqualität, Lebendigkeit und Mitteilungsdichte – ohne Erkenntnisse herauf zu beschwören. Der erweiterte Horizont an qualitativen Daten vertieft folglich das Verständnis bei der Analyse von Gruppen und Einzelinterviews und erhöht die Transparenz bei den Empfehlungen an den Kunden.
Die Komplexität und Dichte der Information stellen auch neue Herausforderungen an die qualitativen Marktforscher beim Studiendesign, der Rekrutierung, Durchführung und der Analyse. Zudem müssen Kosten & Zeit eines Projektes im sinnvollen Verhältnis zum Untersuchungsziel stehen, damit ein heterogenes Projektdesign nicht nur eine schiere Anhäufung von spannenden Methodenbausteinen wird, die redundante Ergebnisse erzielen.
Auf diese Weise werden die Stärken der qualitativen Marktforschung hinsichtlich Relevanz, Authentizität und Substanz weiter ausgebaut und erweitern ihre Anwendbarkeit hinsichtlich neuer Zielgruppen, Märkte und Produktgruppen. Und die nächste Fokusgruppe bleibt auf beiden Seiten des Spiegels spannend und erkenntnisreich.
Oliver Schauss ist Head of Qualitative Research bei Icon Added Value.