Der Jobtitel „Vice President HR | Diversity, Equity and Inclusion“ (Globale Leitung des Diversitätsmanagements) liest sich auf LinkedIn toll, bringt jedoch enorm viel Verantwortung mit sich – die in der Praxis meistens auf nur zwei Schultern verteilt wird. Davon erzählt Katrin Terwiel, die genau diesen Job bei der Deutschen Telekom allein innehate: „Ich hatte das Gefühl, dass meine berufliche Rolle zu viel Raum in meinem Leben einnahm. In Teilzeit zu gehen, war keine Option für mich, da es mehr als genug zu tun gibt. Da Unabhängigkeit, aber auch Verlässlichkeit wichtige Werte für mich sind, wollte ich eine Lösung finden, die beides ermöglicht.”
Also suchte sie das Gespräch mit ihrem Chef. Sie wollte sich so aufstellen, dass nicht alles an ihrer Person hängt, und schlug daher ein Job-Tandem für die Führungsposition vor. Kurz drauf erlitt sie einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule und fiel drei Monate lang aus. Das habe einmal mehr gezeigt, dass ihr Vorschlag nicht nur in der Theorie eine Lösung darstellt, sondern im tatsächlichen Berufsalltag relevant ist.
Ein perfektes Tandem finden
Als Terwiel auf die Suche ging, überlegte sie, welche Menschen sie in ihrem Netzwerk hat, die drei bestimmte Kriterien erfüllen: „Erstens sollte die Person Expertise im Bereich strategische Diversity-Leitung im globalen Kontext mitbringen. Zweitens wollte ich sie schon gut genug kennen, sodass wir von Anfang an eine gute Vertrauensbasis haben würden. Drittens sollte sie komplementär sein, also mich im besten Fall in ganz vielen Bereichen ergänzen können.“
Ayse Semiz-Ewald kannte sie aus einem Mentoring-Netzwerk für Frauen, später waren die beiden auch für dasselbe Unternehmen tätig gewesen. „Ehrlich gesagt“, so Semiz-Ewald, „war ich nicht von vornherein begeistert von dem Tandem-Modell und konnte mir persönlich tatsächlich niemanden dafür vorstellen – außer Katrin.“ Deshalb haben sich die beiden erst mal zusammengesetzt und besprochen, wie sie zusammenarbeiten wollen und mit welchen Erwartungen sie einander begegnen. Am Ende haben die beiden beruflich zusammengefunden und sich dafür entschieden, die Stelle ab Februar 2023 mit jeweils 70 Prozent zu teilen. Das bedeutet konkret, dass Semiz-Ewald von Montagmorgen bis Donnerstagmittag arbeitet und Terwiel am Dienstagmittag beginnt und Freitagabend Feierabend macht.
Doppelte Führung – doppelte Herausforderungen?
Wie jedes Modell, so bringt auch dieses besondere Herausforderungen mit sich – entgegen manchen Vorurteilen aber nicht in doppeltem Maße. Tiffany Wilson, Leiterin des Talentmanagements bei der Deutschen Telekom, erläutert: „Natürlich erfordert das anfangs Mehraufwand, beispielsweise bei der Vertragserstellung. Sobald aber Arbeitszeitmodelle, Vergütung, Compensation und Benefits geklärt sind, unterscheidet es sich lediglich in der Betreuung – es sind eben zwei Personen und nicht nur eine. Im Team selbst erfordert es eine klare Kommunikation und Aufstellung des Tandems.“
„In einem Tandem ist es sinnvoll, Projekte oder Aufgaben stärkenbasiert zu verteilen und festzulegen, wer in welchem Fall eine Entscheidung trifft.“
Katrin Terwiel
Um genau diese Klarheit direkt von Anfang an mitzubringen, haben sich Terwiel und Semiz-Ewald zwei Tage Zeit genommen, um verschiedene Szenarien durchzusprechen und eine Struktur für sich zu etablieren. In der Realität sieht es so aus, dass sie jede Woche zweimal einen gemeinsamen Jour Fixe haben sowie ein Leadership-Meeting mit den Executive Peers in ihrem Team und ein Meeting mit ihrem Diversity-Team. „Diese Zeit muss man auf jeden Fall einkalkulieren und dann schauen, wie man sich aufteilt, um für unterschiedliche Themen die jeweilige Ansprechpartnerin zu sein“, so Terwiel. „Außerdem gehen wir beide ganz unterschiedlich an die Sachen ran. Es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern immer die Frage, was eine Situation gerade erfordert.“ Daher sei es in einem Tandem sinnvoll, Projekte oder Aufgaben stärkenbasiert zu verteilen und festzulegen, wer in welchem Fall eine Entscheidung trifft. Semiz-Ewald ergänzt: „Ein Grundsatz ist für uns ‚Disagree and Commit‘. Wenn eine Entscheidung einmal getroffen ist, stehen beide dahinter, selbst wenn wir die Lösung nicht beide perfekt finden.“
Mehr Zeit für sich – und andere
Das Tandem-Modell bringt einigen Freiraum. Terwiel nutzt ihn, um freiberuflich weiteren Tätigkeiten nachzugehen. Sie bietet Diversity-Strategieberatung und Inklusions-Workshops an, arbeitet als Moderatorin und betreibt einen Psychologie-Podcast. Semiz-Ewald freut ich sich über mehr Zeit mit ihrer Tochter. Und als Karriere-Coach arbeitet sie gerade an einer Zulassung als Bildungsträger, um mit der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter kooperieren zu können. Ihr Ziel ist es, arbeitslosen Frauen und Menschen aus marginalisierten Gruppen in Arbeit zu verhelfen durch ein kostenloses, auf HR-Insiderwissen basierendes Coaching.
Neben neuen Freiräumen für die Einzelnen kann ein Job-Tandem auch strukturelle Veränderungen schaffen: „Es kann ein Vorbild und Zukunftsmodell sein, um im Unternehmen die Work-Life-Balance und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern“, sagt Wilson. Weitere Vorteile, die sie im Tandem sieht: die Vielfalt der Perspektiven auf verschiedene Themen und der erweiterte Erfahrungsschatz, der gegeben ist durch die intensive Zusammenarbeit zweier Personen auf einer Position. Für das Team kann es deutlich einfacher sein, sich abzustimmen, da quasi zwei Kalender zur Verfügung stehen und sich dadurch schneller Lösungen finden lassen. Umgekehrt, so betont Semiz-Ewald, sei es für das Team wichtig zu wissen, wer die jeweilige Ansprechpartnerin sei.
Beide können recht haben
Insgesamt wird klar, dass ein Job-Tandem viele Vorteile, viel Freiraum, viel Erleichterung bietet – und im Hintergrund viel Arbeit und Selbstreflexion erfordert. „Aber auch die Normalisierung von Unverständnis ist wichtig. Natürlich ärgert man sich mal, hätte etwas anders gemacht oder reagiert in stressigen Situationen impulsiv“, sagt Terwiel. Und Semiz-Ewald ergänzt: „Es gibt nicht immer ein Richtig oder Falsch. Wir können auch beide mal recht haben und es erfordert eine gewisse persönliche Reife, das zu akzeptieren und nicht jede Meinungsverschiedenheit als Fehler zu deklarieren.“