Mediacom-Einkaufschefin zur neuen Werbefreiheit: „Es besteht die Gefahr, dass Zuschauer zu Netflix und Amazon abwandern“

Von Pro Sieben bis RTL - die TV-Sender können ab 2019 mehr Werbung in der Primetime schalten. Im Interview rechnet die Mediacom-Einkaufschefin Sandra Woerdehoff, dass die Sender mehr Werbung von der Day- in die Primetime verschieben - allerdings nur in einem kleinen Rahmen. Denn die Fernsehunternehmen wollen nicht riskieren, dass sie durch zu lange Werbeblöcke Zuschauer an Streamingdienste wie Netflix oder Amazon verlieren.
Mediacom-Einkaufschefin Sandra Woerdehoff

Von 

Frau Woerdehoff, die EU plant, die AVMD-Richtlinie zu überarbeiten. Dadurch sollen sich die Werbezeiten der TV-Sender in der Primetime ändern. Was ist konkret geplant?

Bislang können die Fernsehunternehmen Sendungen in der Primetime alle 30 Minuten durch Werbeblöcke unterbrechen. Dies soll sich 2019 ändern, wenn die AVMD-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt wird. Dann sind Werbeunterbrechungen schon nach 20 Minuten möglich.

Ändert sich die 20-Prozent-Regelung?

Nein, die Werbung darf im Programm der Fernsehsender weiterhin in der Zeit zwischen 7 und 23 Uhr nicht mehr als 20 Prozent ausmachen. Doch die neue AVMD-Richtlinie gewährt den Sendern mehr Flexibilität. Das heißt: Sie können die Werbeblöcke in der Primetime leichter verschieben.

Beispielsweise, wenn RTL oder Pro Sieben aus aktuellen Gründen eine längere Nachrichtensendung zeigt. Können die TV-Kanäle dann die nicht ausgestrahlten Werbeblöcke zu einem späteren Zeitpunkt nachholen?

Ja, sie können dies nachziehen – egal in welcher Zeit. Doch die Sender werden sich genau überlegen, ob sie Werbeblöcke von 10 bis 13 Minuten in Kauf nehmen. Denn sie gehen das Risiko ein, dass ihnen die Fernsehzuschauer abspringen und sie zu einem anderen Sender wechseln. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Sender vielleicht häufiger kleinere Unterbrecher einstreuen.

Apropos Nachrichtensendungen. Könnte es hier auch zu Werbeunterbrechungen kommen?

Nein, Nachrichtensendungen sind im Fernsehen ein heiliges Gut. Das gilt für die Tagesschau wie für die Nachrichtensendungen auf Sat 1 oder RTL, die bei den Zuschauern gesetzt sind. Die Privatsender werden einen Teufel tun, daran in der nächsten Zeit etwas zu ändern.

Welche finanziellen Vorteile haben die Sender durch die veränderte AVMD-Richtlinie?

Die geänderte AVMD-Richtlinie verschafft den Sendern einen größeren Spielraum, Werbezeiten von der Daytime in die Primetime zu verschieben. Da die Werbezeiten in der Primetime deutlich teurer sind, können die Sender ihre Vermarktungserlöse steigern.

Um wie viel ist die Primetime denn teurer?

Wer in der Daytime 30 Sekunden bucht, muss hierfür zum Beispiel 10.000 Euro zahlen. In der Primetime kostet hingegen eine halbe Minute Werbung rund 40.000 Euro. Das sind Durchschnittspreise. Denn der Preis ist immer abhängig vom Programmumfeld, Wochentagen und Monaten.

Mehr Werbezeiten in der Primetime sind für die TV-Sender ein Vabanque-Spiel. Wandern nicht mehr Zuschauer zu Streamingdiensten wie Netflix und Amazon ab?

Die Auswirkungen sind momentan schwer zu prognostizieren. Nach meiner Einschätzung werden die Sender die Werbeblöcke in der Primetime nur ‚mit Augenmaß‘ ausweiten – vielleicht ein bis zwei Minuten pro Stunde. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Zuschauer zu Netflix und Amazon abwandern. IP Deutschland hat bereits Stellung dazu genommen.

Pro Sieben Sat und RTL verfügen über Streaming-Angebote – wie wirkt sich die neue Werbefreiheit auf den Online-Bereich aus?

Zwei Minuten mehr Werbezeit in der Primetime sind zu wenig, als dass sie zu massiven Zuschauerabwanderungen ins Netz führen könnten. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass vor allem junge Zielgruppen ihre Lieblingsserien immer öfter im Netz sehen – wie beispielsweise Gute Zeiten, Schlechte Zeiten bei TV now.

Werden die Sender langfristig die Werbezeiten verlängern?

Das ist möglich. Erst in den 90er Jahren hat das Privatfernsehen damit begonnen, Werbeunterbrecher einzusetzen. Daran haben sich die Zuschauer inzwischen gewöhnt. Ich könnte mir daher vorstellen, dass die Sender die Werbeblöcke behutsam ausweiten, um die Zuschauer langsam an längere Werbezeiten heranzuführen. Dabei behalten die Sender aber die Quoten genau im Blick. Wenn sie merken, dass die Reichweiten zurückgehen, werden sie das Rad wieder zurückdrehen.

Wird es Online andere Werbeblöcke als im Analogen TV geben?

Das ist eine spannende Diskussion. Bisher halten sich die Sender hier zurück, längere Werbeblöcke im Netz zu schalten. Jeder Werbeblock besteht hier meist aus zwei bis drei Spots, die als Pre- oder Post-Roll vor den Sendungen eingesetzt werden. Die Sender werden vorsichtig sein, daran etwas zu ändern. Sie riskieren ansonsten die jüngere Zielgruppe ganz und gar zu verlieren – beim linearen Fernsehen als auch beim Streaming. Das ist nicht in ihrem Interesse.

Werden die Sender neue TV-Formate entwickeln, um die Werbung besser einzustreuen?

Dies ist bei selbst produzierten Sendungen denkbar. Doch die Sender kaufen vor allem viele Formate aus dem Ausland ein. Sie haben hier keinen Einfluss auf den Ablauf der Story der es ggf. erlaubt mehr Werbecuts in den Formaten zu platzieren.

Wirkt sich die künftige Werbefreiheit auf die Preise aus?

Preise und Reichweite befinden sich in einer starken Korrelation. Dafür sind wir Agenturen die Wächter. Wir achten sehr genau darauf, dass die Werbeblöcke und Programme für Kunden wirtschaftlich sind. Wir als Agenturen werden immer ein Auge darauf haben, dass keine große Preisinflation einsetzt, also die Preise beispielsweise in einem Jahr schlagartig um 20 Prozent zulegen.

Steigen denn die Preise?

Inflation haben wir von Jahr zu Jahr. In einzelnen Monaten sind die Preisschwankungen sehr groß: mal steigen die Preise einstellig, mal zweistellig. Durchschnittlich liegen die Bruttoinflationen jährlich zwischen vier bis sechs Prozent. Das schlägt sich aber nicht automatisch in den Werbeerlösen nieder, da es sich nicht um Nettopreise handelt. Anfang des Jahres sind die Sender davon ausgegangen, dass die Werbeerlöse um ca. 2,5 Prozent steigen. Jetzt sind die Sender bereits zurückgerudert, weil in den Monaten Januar bis Juli noch nicht viel passiert ist. Die Sender rechnen damit, dass die Werbeerlöse gegenüber dem Vorjahr stagnieren.

Die Werbeaussichten trüben sich 2017 ein. Sehen Sie, dass die Sender im nächsten Jahr in der Vermarktung vor größere Problemen stehen?

Das ist schwer zu sagen. Ich muss allerdings feststellen, dass die Sender wenig in Programminnovationen investieren. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Sender zeigen vermehrt aus der Konserve, sprich Wiederholungen von früher erfolgreichen Programmen. Die Sender sind daher stark gefordert, das Medium wieder attraktiver zu machen. Schaffen sie keine attraktiven Werbeumfelder, werden sich die Werbetreibenden nach Alternativen umschauen.

Lassen sich die Sender zu wenig einfallen, um attraktive Werbeumfelder zu schaffen?

Wir können nicht wirklich erkennen, dass in den letzten zwei bis drei Jahren Serien oder TV-Formate wirklich eingeschlagen sind. Mir fallen spontan nur „Der Club der roten Bänder“,die erste fiktionale Eigenproduktion in der Geschichte von VOX oder „Circus Halligalli“ bei Pro7 ein. Gehen aber solch erfolgreichen Formate in die 3 oder 4. Staffel, legt sich auch hier das Zuschauerinteresse.

Warum fehlt es den Sendern an Innovationskraft?

Die Sender müssen heute mehr denn je abwägen, ob ein Format mehr als die Produktionskosten einspielt. Denn der Wettbewerbsdruck durch Netflix, Amazon, Sky & Co. wächst. Diese produzieren immer mehr Serien, die bei den Zuschauern beliebt sind. Einige davon gibt es auch in der Zweitverwertung bei Pro Sieben oder RTL 2. Doch die Sender zeigen hier beispielsweise die vierte Staffel von Games of Thrones, während man die sechste Staffel bereits synchronisiert auf Sky abrufen kann. Wenn ich wirklich ein Fan einer solchen Sendung bin, sind die Zuschauer auch bereit, hierfür bei einem Streaming-Dienst zu zahlen.

Dass heißt, den Sender fällt nichts ein?

Es ist nicht leicht, den Nerv der Zuschauer zu treffen. Ich bin jetzt seit über 20 Jahren im Media-Business. In den letzten Jahren hatte ich selten das Gefühl: Wow, das ist wirklich etwas Neues. Mein Eindruck von den Sendern ist: Sie verwalten mehr als zu gestalten.