Derzeit sind Marketingleiter mit sich und ihren Teams beschäftigt. Irgendwo zwischen Omni- und Multichannel, zwischen E-Commerce, operativer Planung von Awardverleihungen und Hunderten von neuen Kommunikationskanälen suchen alle nach der Lösung – dem heiligen Gral. Gefühlte Überforderung herrscht allerorten. Das ist zwar verständlich und nachvollziehbar, doch die Chancen gehen völlig unter. Irgendwo zwischen Livestreams, Blogs, Crowdsourced Content, Reputation, Social Bookmarks, Wikis, SMS/Voice, Location based versinkt die Relevanz in einzelnen Bildern und Posts. Dabei ist das echte Marketing eine Zukunftsdisziplin.
1. Was macht Marketing heute?
Marketing macht heute vor allen Dingen Kommunikation. Doch neues Verhalten, sprich Trends und Megatrends, schaffen auch unfassbare Möglichkeiten und ganz immanenten Druck –zwischen einer realistischen Vervielfachung der eigenen Relevanz und dem Untergang des bisherigen Geschäftsmodells.
Plattformen beispielsweise übernehmen klipp und klar das Ruder. Drehkreuze wie Uber und Mytaxi, Amazon und Alibaba, Skype und Whatsapp, Xing und Linkedin, Youtube und Vimeo, Paypal und Starbucks lassen die jeweiligen Nummern drei, vier und fünf ins Bodenlose verschwinden. Ja, Starbucks ist laut Holger Spielberg, Head of Innovation der Digital Private Bank der Credit Suisse, die Nummer zwei – nicht beim Kaffee, sondern beim mobilen Bezahlen. Und natürlich ist dies mit einer Vielzahl an angenehmen Zusatzleistungen verbunden: Bestellvorgänge, Loyalitätsprogramme … Ein tolles Beispiel dafür, dass eine scheinbar harmlose App zur Machtzentrale im eigenen Unternehmen wird.
Die Person und das Team, die diesen Umschlagplatz betreuen und vorantreiben, werden gleichzeitig die gewaltigste Einheit im Unternehmen. Sie schaffen es, auf dem Unterbau des Kaffeeverkaufs die Türen aufzumachen für völlig neue Unternehmenskonzepte. Warum sollte „My Starbucks Rewards“ eines Tages nicht „Miles & More“ von Lufthansa, „bahn.bonus“ und auch gleich „Pay Direkt“ übernehmen? Es wird schon an diesem einen Exempel deutlich, welches Vakuum herrscht, wenn beispielsweise durch Digitalisierung Millionen von etablierten Geschäftsmodellen infrage gestellt werden. Wenn kleine Schnellboote, oft im Start-up-Modus, große Dickschiffe massiv herausfordern und nicht selten die Flanken aufreißen.
Genau in diesen Zeiten werden auch interne Strukturen infrage gestellt. Hoffentlich. Jetzt ist der Augenblick, in dem Handlungsspielräume neu verteilt, Stärken wieder frisch ausgelotet und in Organisationen die Entscheidungsfindungsprozesse unter die Lupe genommen werden. Sollten! In genau diesen Tagen wird entschieden, wer in Zukunft (digitale) Geschäftsmodelle prägt: der neue Chief Digital Officer, der Chief Information Officer oder der Chief Marketing Officer? „Chief“ sind sie irgendwie alle und digital auch. Doch es ist offensichtlich, dass das Rennen eröffnet ist. Wer berichtet an wen, wenn die Datenkultur das Gebot der Sekunde ist? Wer liefert wem zu, wenn völlig neue Wettbewerber auftauchen und Kunden wochenlang vor Apple Stores campen, um das neue iCar kaufen zu dürfen? Wie schnell sind Organisationen, wenn genau diese Machtfragen nicht geklärt sind und damit zur Nagelprobe werden?
2. Wo liegen die Ursachen?
Die Ursachen liegen möglicherweise darin, dass Marketing-Topentscheider gar nicht mächtig werden wollen. Oder, provokanter formuliert: „Ist die schöne Broschüre nicht genug für so manchen Marketingleiter?“
So weit die eigene Rolle auf Kommunikation beschränkt wird, ist der „Starkstrom-Faktor“ deutlich geringer, als wenn die ganz große Bühne bespielt wird. Mit Steve Jobs oder Ferdinand Piëch hätten Sie es nur zu tun gehabt, wenn Sie wirklich ins Produkt und ins „Pricing“ gebohrt hätten und wenn Sie sich gleichzeitig mit dem Vertriebsleiter anlegen – denn Marketing heißt eben auch Vertriebsstrategie. Das alles muss man natürlich wollen und sich nicht im „unmessbaren Terrain“ der Kommunikation aufhalten. Ist Macht für viele marketingtreibende Menschen schlichtweg nicht wichtig?
3. Was sollte Marketing in der Zukunft können?
Marketing darf die ganz große Idee transportieren. Eine Ausgangslage, die wie ein Virus infiziert – erst intern und bald auch extern. Ein tolles Beispiel kommt aus Dänemark und Bolivien: Claus Meyer ist der Haupteigentümer des wohl besten Restaurants der Welt, „Noma“, so jedenfalls das Urteil der Fachzeitung „Restaurant Magazin“ mit der vierfachen Auszeichnung (2010, 2011, 2012 und 2014). In deren Kommunikation wird Folgendes beschrieben: „We look to our landscape and delve into our ingredients and culture, hoping to rediscover our history and shape our future.“ Auf dem Teller übersetzt heißt dies, dass durchaus Flechten und grönländische Moschusochsen serviert werden – und genau damit die Restaurantszene zwischen Reykjavik und Helsinki mit einem Update überzogen wurde.
Jetzt kommt die nächste Ausbaustufe mit einem noch größeren Anspruch: Das neue Restaurant Gustu soll in La Paz (Bolivien) die Essenskultur des kompletten Landes verändern. Auf einer Fläche mit mehr als einer Million Quadratkilometern sollen sich mehr als zehn Millionen Menschen anstecken lassen – gerne mit weltweitem Dominoeffekt. Denn das Land beherbergt nach Aussage des Gründers eine sehr interessante sowie unbekannte Artenvielfalt und eine bisherige Essenskultur, die scheinbar diese Chancen überhaupt nicht reflektiert. Man könnte auch sagen, das Essen ist lausig.
4. Wo ist hier die Kommunikationsabteilung? In jeder Fliese und jeder Fuge!
Wenn sich Topentscheider derartig aus dem Fenster lehnen – so „amerikanisch“ den Mund aufmachen, dann muss Selbstbewusstsein auf Verbindlichkeit treffen. Jetzt muss geliefert werden – jetzt muss das komplette Team hungrig sein. Die Macher müssen vorleben und verrückt sein. Hier geht es nicht um Effizienz oder „Supply Chain“, hier geht es um Ansteckungsgefahr mit Feinsinn. Ist Marketing denn nicht die Komposition des gesamten Unternehmens, das schlussendlich Begeisterung beim Kunden auslöst? Soll es nicht unerwartet positive Erlebnisse provozieren?
Beim Blick auf die neuesten Entwicklungen ist alles möglich. Alles und sehr viel mehr. Marketing mit Zeitgeist fordert diese Grenzen heraus, stresst jeden Bereich und nimmt die Kollegen mit einer ganz großen Idee mit. Mit einer Denkweise, die anzündet und genau dadurch mächtig ist. Es könnte also sein, dass die vermuteten Denkstile gar nicht so unhandlich sind – so lange eben Ansteckungsgefahr herrscht.
Das Restaurant Noma musste sich übrigens 2013 entschuldigen, denn mehrere Gäste litten an Erbrechen und Durchfall. Auch das beste Restaurant der Welt wurde bezwungen – von einem Virus.
5. Welche Typen und Profile sind zukünftig gefragt?
Menschen, die bei allem Wahnsinn die Übersicht nicht verlieren und genau diese nutzen, um loszulaufen, sind künftig gefragt.
Auf Basis von Fixsternen darf und muss getestet werden. In einer digitalen Welt sind Tests deutlich einfacher als früher – oft kostet es nur ein paar Stunden Arbeit, und eine neue Idee kann losgelassen werden. Raus auf den Markt. Ohne sechsstellige Marktforschung, „quick and …“ Nein, eben nicht „dirty“, sondern „fast“!
Hilfreich ist sicherlich auch, die eigene Positionierung zu durchleuchten. Für was steht die Marketingabteilung – welches Profil hat sie, und was grenzt sie ab? Wenn das Marketingteam eine Automarke wäre, welche wäre sie und warum?
Welche Geschichten nutzt die Abteilung, um beispielsweise „Big Data“ verständlich zu machen und andere Unternehmensbereiche mitzunehmen? Die Expo 2015 in Mailand ist eine grandiose Plattform, um die Kraft und den Irrsinn zu erleben. Nur drei oder vier Pavillons reduzieren sich auf eine Informationsmenge, die verdaulich ist. So der Stand der Briten, hier steht die Biene im Zentrum. Eine Leitidee, die verständlich ist. Auf dem deutschen Grundstück ist dagegen Overengineering sicht- und spürbar. Auch hier wird die Biene als Thema präsentiert – aber eben nicht alleine. Es sind auch jede Menge Wespen, Hummeln und Königinnen unterwegs, na ja, es ist eben auch ein großes Anwesen.
Wir haben in unserer Arbeit einen Megatrend, den wir als „Weniger ist wer“ bezeichnen. Es ist ein Appell, durch Reduktion von Inhalten sichtbar zu bleiben. Denn das Leben ist wie eine Expo – dort sind 145 Länder vertreten (die meisten waren zur Eröffnung ja dann doch fertiggestellt) und gefühlt 1 000 Marken. Den Gebäuden eins, zwei und drei geben wir noch eine Chance, danach kommen wir an Grenzen und selektieren massiv. Dieses Bewusstsein darf ein Marketingentscheider nie verlieren, egal, wie viele Bereiche hineinreden – in die Messe, in die Produktgestaltung oder die neue Preisliste.
Und genau hier beißt sich die Maus doch den Faden ab, wenn der Marketingmacher keine Macht hat. Wir brauchen Typen, die stark sein wollen und den Preis dafür zahlen. Einfluss muss man sich erarbeiten. Doch es lohnt sich, mit großen Ideen wie dem Restaurant Gustu sein Leben zu verbringen. Virus in personifizierter Form? Das hört sich großartig an!
Sind diese „Menschenprofile“ Opfer oder Täter? Werden sie verändert oder verändern sie? Ich sehe jede Menge Macher, die verrückter sein dürfen. Starkstrom hat jede Menge Kraft.
Über den Autor: Mathias Haas ist der Trendbeobachter, und damit kein klassischer Trend- oder Zukunftsforscher. Er und sein Team machen Unternehmen, Verbände und öffentliche Träger zukunftsfit. Er agiert mit Infotainment, transferorientierter Beratung und gesundem Menschenverstand. Haas ist auch Gründer der Play Serious Akademie.