Warum gelingt es Ihnen, über Jahrzehnte und über mehrere Altersklassen im Geschäft zu bleiben?
Weil ich ein neugieriger Vogel bin und keine Neigung zur Selbstgefälligkeit oder zum Zurücklehnen habe, egal, was ich bereits erreicht habe. Darüber freue ich mich, klar, aber ich muss nach vorne gehen. Ich treffe ständig neue und junge Leute. Ich lebe praktisch auf der Straße, ins Hotel gehe ich immer nur zum Pennen. Und ich gehe viel in Konzerte von jungen Leuten, Jan Delay, zum Beispiel, Clueso oder Jenni Rostock. Mit all denen habe ich einen guten Draht, wie unter Kollegen oder Freunden. Das gilt auch für die große Pop- und Rap- und Hip-Hop-Familie in Deutschland. Ich habe diese Kontakte immer gepflegt. Wir machen Songs zusammen und inspirieren uns gegenseitig. Und schon entsteht ein anderer Groove, ein neuer Rhythmus, wo jeder mit muss.
Das klingt alles zufällig und spielerisch.
Bei Clueso und „Cello“ waren es mein Spiel und mein Sound in Kombination mit einem jungen Künstler. Meine Stimme ist eine Trademark, damit habe ich wirklich Glück gehabt. Darein habe ich viel Whisky und Zigarren investiert, aber nicht eine Sekunde Gesangsunterricht. Ich wollte meiner Stimme den Charme der Straße nicht nehmen, wollte, dass sie klingt wie ein rauer Straßenwind, nach echtem Leben. Ich kam erst gar nicht in die Versuchung, lange Töne zu halten oder mit Vibrator im Hals zu singen. Ich wollte jemand sein, der sich als Nichtsänger auf die große Bühne traut. Damit die Leute sagen: Wie der singt, so würde ich wahrscheinlich auch klingen. Das war meine Story: unsere Straßengeschichten, das echte Leben. Etwas zum ersten Mal zu machen, ohne dass man weiß, wie es geht. Das sind Themen, die auch viele Jugendliche haben, und so habe ich auch die erreicht. Schulstress, Abhauen von zu Hause, Tramperlieder singen. Die sind heute noch so, wie wir damals waren. Aber die neuen Einflüsse waren genau so wichtig: Nie stehen bleiben, immer weitermachen, bis heute. Gerade bastele ich an einem Lied über den Komponisten Robert Schumann.
In Ihrer Karriere gab es nach den Erfolgen auch einen Knick. Es schien nichts mehr zu gehen. In der Markenwelt würde man in einer solchen Situation das Produkt vom Markt nehmen oder diesem einen Relaunch verpassen.
Ich hatte nie eine totale Auszeit, aber zumindest ein bisschen. Ich habe mich der Malerei gewidmet. Ich habe zwischendurch auch Platten aufgenommen, da waren auch gute Sachen dabei. Aber es wurde nicht mehr so zur Kenntnis genommen. Das waren zum Teil auch schwierige Zeiten. Ich habe experimentiert, zum Teil mit schwierigen Themen, bei Atlantic Affairs ging es um die Verfolgten der Nazi-Zeit, auch das KZ Theresienstadt. Irgendwann fragte ich mich: Wie mache ich denn auf die Dauer so weiter? Wie stelle ich mich auf die Bühne, wenn ich 60 bin? Das war in meiner Berufstrinkerzeit, ich war schwer alkoholisch und sagte mir: Andere denken nach, wir denken vor, ein bisschen krisenbetont auch. Hauptberuflich war ich eigentlich Trinker, Schluckspecht. Ich hatte noch nicht den Trick raus, wie ich mich nach vorne beuge und wieder hochkomme. Mir wurde aber klar: Du musst die Sauferei einstellen, denn du bist zu sehr Exzessor. Ich trank ja auf St. Pauli und nicht in einem Ortsteil namens Maßen. Da war ich ja noch nie, in Maßen. Was ich auch mache, ich neige zum Exzess.
Hauptberuflich war ich eigentlich Trinker, Schluckspecht
Das hätte Sie das Leben kosten können.
Ja. Es waren aber auch wertvolle Erfahrungen in den Außenbezirken des Lebens, in Ausnahmesituationen, in Niemandsländern, die Du durch Nebelwände siehst. Das war durchaus interessant. Und es waren Quellen für kultige Songs.
2008 erfolgt der Relaunch, und er gelingt. Udo kommt wieder, stärker als je zuvor. „Stark wie zwei“ wird seine bis dato erfolgreichste Platte – nach 40 Jahren Karriere. Stringent dabei sein visueller
Auftritt, der nachhaltig von der Bildsprache seiner Freundin und Fotografin Tine Acke geprägt wird. Sie sagt selbst von sich: „Ich bin quasi das Fenster zu Udo.“ Auch passend zum Relaunch: Der Exzessor ändert seinen Lebensstil.
Was passierte dann?
Ich habe mein Leben drogenmäßig umgestellt, weg vom Saufen. Wurde wieder schmal, wog keine 93 Kilo mehr, sondern 71. Ich fing mit Sport an. Das war der erste Schritt. Und dann hatte ich das Glück, dass ich ein paar sehr guten Producern begegnet bin. Ich wusste: Now or never. Du musst es wieder richtig bringen, oder das war’s dann. Wie bei einem Boxer, der nach zehn Jahren wieder in den Ring geht. Ich wollte natürlich, dass es richtig abgeht, auch zu Ehren des Namens Lindenberg.
Hatten Sie in der Situation je den Gedanken, Ihr Design zu ändern … weg mit Hut und Sonnenbrille?
Nein, das waren ja meine Markenzeichen. Ich wollte schmal sein und mich auf der Bühne schnell bewegen: Schnell und gut, Mann mit Hut, habe ich gesagt. Das alles geht nicht, wenn Du voll in der Ecke sitzt. Ich wollte wieder ordentlich Showtime machen und fing an, jede Nacht zu joggen.
Hatten Sie damals Selbstzweifel, Angst, es trotz aller Anstrengungen nicht zu schaffen?
Die hat doch jeder ein bisschen, in stillen Momenten. Aber wenn ich singe „Ich bin der Erfinder höchster Coolness“, dann wollen die Leute das auch sehen. Also bin ich bei einem Konzert auf einer klitzekleinen Plattform vor 50 000 Leuten an Spiderman-Drähten durch das Stadion gefegt. Wenn schon Showtime, dann richtig. Das waren 300 Meter, davor hatte ich schon ein bisschen Bammel. Das war so ein stiller Moment, in dem ich mich fragte: Bin ich wirklich so cool? Die Antwort gab ich mir selbst: Jaja, klar, bin ich. Ich bin wirklich so verrückt. Ich bekenne mich auch gern zu meiner Verrücktheit: weggerückt, vom Normalen weit abgerückt. Das fand ich schon immer erstrebenswert, das normale Leben hat mich dagegen eher erschrocken.
Gibt es für Ihre Shows ein Rezept, einen roten Faden?
Wichtig ist die lässige Art, das Lockere und leicht Verspielte, wie Stuckrad-Barre mal sagte: „Ein bisschen wie leicht angetrunkene Kinder.“ Ich möchte eine Atmosphäre herstellen, wo jeder denkt: Hier kann man sich auch mal danebenbenehmen, Scheiße bauen. Das ist nicht so konventionell. Das lieben die Leute. Sei es nun an dieser Marke Musik oder an dem Typ Lindenberg. Marke und Mensch sind ja ein und dasselbe inzwischen.
Davon kommen Sie nicht mehr runter, scheint es.
Nein, sonst wäre das auch anstrengend, glaube ich. Ich lebe ja quasi in der Öffentlichkeit.
Aus Ihrem Team heißt es, Sie seien sehr nachtaktiv und würden alle Entscheidungen selbst treffen, die im Zusammenhang mit der Marke Udo Lindenberg stehen.
Mir ist es vor allem wichtig, dass ich gute Leute um mich habe, die Besten aus ihrem Fach.
Als Teenager schrieben Sie einem Freund eine Postkarte, auf der es hieß: „Nächste Woche komme ich aus dem Urlaub. Ich mache Schlagzeug, Du machst Management. Wir werden sehr reich.“ Waren Sie immer schon ein Markenstratege?
Ja. Das sind dann die berühmten Eingebungen. Aber nicht alles sind Eingebungen, manches fliegt einem auch zu. Ich war ja von Berufs wegen viel an der Bar, mit hochgeistigen Getränken sozusagen. Da treffe ich Leute und schnacke mit denen über Texte und Shows. Ich bin ein geselliger Mensch. Daraus entstehen Ideen. Beispiel: Du kippst aus Versehen ein Glas um, Eierlikör auf Papier, und Du siehst die schöne gelbe Farbe. Jemand sagt, zeig mal her und kippt Grenadine und Blue Curacao drauf. Okay, sagt einer, das ist ein Likörell. So entstanden Likörelle.
Dann gab es noch die Idee, ein Kreuzfahrtschiff zum Rockliner umzufunktionieren. Wie kam es dazu?
Weil ich sehr gerne zur See fahre. Beim ersten Mal wurde ich auf ein Schiff eingeladen zu einer Ausstellung meiner Bilder. Ich dachte mir: Ob das wohl gut geht mit mir auf einer Grufti-Reise? Aber dann war doch alles ganz locker, Reisen mit Greisen. Nebenbei habe ich dort ein bisschen getextet: „Der Greis ist heiß“. Später habe ich der Band davon erzählt, und die sagten: „Nimm uns doch mal mit.“ Das war der Start zu Rockliner. Wir haben das schon sechs- oder siebenmal gemacht und damit diese Art von Event-Kreuzfahrt eingeläutet.
Sie nennen Ihre eigene Vorstellungswelt das Udoversum. Haben Sie eigentlich auch Leitbilder außerhalb der Panik-Galaxie?
Eigentlich keine. Ich finde andere Kollegen toll: Steven Tyler, Aerosmith, Mick Jagger, die sind ja auch in dem Alter. Dass die noch ordentlich losmachen und so. Aber viele sind das ja nicht mehr, sterben ja alle weg. In Deutschland wächst ja auch kein richtiger Rockstar nach. Deswegen singe ich in einem Lied: „Einer muss den Job ja machen.“ Nützt ja nichts, da muss ich dann eben noch mal ran.