Manfred Schmidt folgt dieser Kernaussage der Studie Future Trends. Als weitergehende Anforderung formuliert der führende Markentechniker: Jeder Alleingang muss die Markenenergie stärken. Eine Anleitung zur Aktivierung unbeachteter Wachstumspotenziale.
Herr Schmidt, ein Essential der Studie Future Trends 2002 lautet, neue Märkte zu schaffen verlange, über neue Geschäftsmodelle die Branchenregeln zu ändern. Stimmen Sie der These zu?
SCHMIDT: Absolut. Nur, wer die so genannten Branchenregeln durchbricht, kann unter den heutigen Marktbedingungen überhaupt manövrierfähig werden.?
Nun gibt es unterschiedliche Wege, die Grenzen zu sprengen. Wie geht der Markentechniker am besten vor?
SCHMIDT: Vorsichtig. Wer das Essential als Aufforderung missversteht, dem Trend zu immer mehr Hektik und Fremdbestimmung zu folgen, macht einen dramatischen Fehler. Wenn ihn die Analyse der Möglichkeiten, die Grenzen zu brechen, zur Rückbesinnung auf die Quelle der Markenenergie führt, schlägt er die richtige Richtung ein: Wer dem Markt seinen eigenen Stempel aufdrücken, sich also als Pionier zum Marktführer im eigentlichen Sinne entwickeln will, muss sich nämlich auf zwei Dinge besinnen: auf die Bedeutung des Begriffes Markt und auf den Kern der Marke. Also auf die ihr innewohnende Energie.
Aber das zu tun, behaupten doch alle von sich.
SCHMIDT: Und erreichen häufig das genaue Gegenteil. Zunächst begreifen sie nicht die Käufer als Markt, sondern den Handel und die Wettbewerber. Damit sind sie fremdbestimmt – wo wollen sie da ihre Bedingungen diktieren? Das durchgän-
gige Bild ist doch: Zehn Prozent der Produkte erwirtschaften 90 Prozent der Wert
schöpfung. Dafür werden diese dann mit Mittelentzug bestraft, weil „das Produkt eh läuft“. Die nicht rentablen Marken werden hingegen unverhältnismäßig gepäppelt.
Was verstehen Sie unter Markenenergie?
SCHMIDT: Wie lange haben Sie Zeit? Kurz gesagt: Unter Markenenergie verstehen wir das an positiven Vorurteilen, was sich in den Hirnen der Kunden festgesetzt hat. Jene Informationscluster also, die durch Bilder und Symbole aufgerufen werden. Die viel mehr ausmachen als Erinnerungen an Werbebotschaften und aufgefüllt sind mit Produkterfahrungen sowie allen anderen Leistungen, die im Unternehmen erstellt werden – und wurden. Das hat viel mit soziologischen Phänomenen zu tun. Im Ergebnis entsteht ein konsistentes Informationskollektiv von ungewöhnlicher Stabilität. Negative Einzelerfahrungen sind kaum in der Lage, dieses Kollektiv zu stören, permanente Irritationen aber schon. So können sich Manager lange Zeit in der trügerischen Hoffnung wiegen, ihre kurzatmigen und damit objektiv destruktiven Maßnahmen seien ja erfolgreich, weil nicht schädlich. Eines Tages aber bricht dieses Kollektiv unter der Belastung zusammen, und die Marke degeneriert. Daher warne ich stets vor Versuchen, Branchenregeln zu verändern und neue Produkte einzuführen, wenn die Voraussetzungen nicht sorgfältig geprüft wurden. Sonst wirkt kreative Markenführung langfristig ausschließlich destruktiv.
Wie aber, wenn nicht mit kreativem Marketing, lassen sich die Branchenspielregeln verändern? So wie Swatch oder Ikea das vorgemacht haben?
SCHMIDT: Es bleibt genug Platz für Marken-konzentrierte Kreativität. Wer allerdings Hektik mit Kreativität verwechselt, kommt auf falschen Kurs. Ich vergleiche solche Manager gerne mit Kapitänen, die sich vom Ozean den Kurs bestimmen lassen. Die alle Mann an die Reling schi-
cken, um selbst die Bewegung der kleinsten Wellen zu melden, in der Überzeugung, daraus die Route bestimmen zu müssen. Aus lauter Aktionismus dreht man sich nur im Kreis. Irgendwann bleibt man liegen, weil der Dampfer keinen Sprit mehr hat. Also: Die größte Verlustquelle in der Markentechnik ist heutzutage die Orientierungslosigkeit aus Visionsverlust.
Wo „richtige“ Energie ist, ist sicher auch „falsche“?
SCHMIDT: Ja, das ist die, mit der die Markenkapitäne gerade mehrheitlich versuchen, Schub zu gewinnen: die Energie aus den Prozessen. Aus lauter Angst, Preisschwellen zu überschreiten und in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Einkäufern versuchen sie, den Gewinn aus der Rationalisierung zu schöpfen. Alles wird schlank, das Klima im Unternehmen schlechter und die Qualität lässt sich nicht halten. Am Schluss werden dann auch die Marktanteile schlank.
Demnach wäre die effizienteste Methode, seinem Segment die eigenen Regeln zu verordnen, der Hektik zu entsagen, Management-Moden lieber andere ausprobieren zu lassen und stattdessen alle Kraft in die Pflege der Markenenergie zu stecken. Lässt sich denn dann noch flexibel handeln?
SCHMIDT: Aber sicher. Sorgfalt und Effizienz haben ja nichts mit Inflexibilität zu tun. Manager reagieren aber sicherer, wenn sie nicht jedem Scheintrend folgen. Wer zum Beispiel bei der Implantierung seines Angebots ins Internet nicht der Meute hinterhergelaufen ist, die nach neuen Internet-Marken schrie, hat seinem Unternehmen eine Menge Geld gespart, die vorhandene Markenenergie beim Verbraucher genutzt – und dieser sogar neue Kraft zufließen lassen. Heute bestimmt zum Beispiel Otto das Segment und nicht Karstadt. Vor allem hat ein Unternehmen, wenn es den Markt führt, und sei es auch nur ein Segment, die Chance, seine Preiskonditionen durchzusetzen. Um zum Beispiel die eigenen Qualitätsstandards zu sichern und der Marke damit neue Energie zuzuführen. Das ist dann die wirklich nachhaltige Methode, die Branchenregeln zu verändern.
Das Gespräch führte Hans Georg Möntmann.
Manfred Schmidt
ist Vorsitzender des Instituts für Markentechnik in Genf, das sich auf Beratung in strategischer und operativer Markenführung spezialisiert hat. Das Institut wurde 1993 gegründet. Vor seiner Beratertätigkeit wirkte Schmidt in Spitzenführungspositionen in Marketing und Vertrieb der Unternehmen ITT Consumer Electronics, Telefunken, Thomson Deutschland, Nokia Consumer Electronics Europe.
eingestellt am 3. Juli 2002