Herr Rinnebach, sind die Meldungen über geschlossene Filialen internationaler Modemarken in China erst der Anfang und erwarten Sie weitreichende Folgen für die internationale Mode- und Textilbranche?
Aus meiner Sicht werden sowohl Marken als auch Händler die Auswirkungen des Coronavirus in zwei Wellen zu spüren bekommen: Was wir momentan erleben, ist die erste Welle, in der wesentliche Teile der Produktion in China zum Erliegen gekommen sind. 30 bis 40 Prozent unserer Bekleidung kommen aus China und sind somit betroffen. Es kommt zu deutlichen Verzögerungen und Ausfällen der Lieferungen. Ware, die eigentlich verkauft werden soll, fehlt beispielsweise in Europa und den USA und es müssen vorherige „Drops“ – also monatliche Neuheitenzugänge – länger auf der Fläche gehalten werden. Dies führt auf der einen Seite zu Umsatzverlusten durch fehlende Ware. Auf der anderen Seite werden Mehrkosten verursacht, zum Beispiel Luftfrachtkosten, um Ware doch noch rechtzeitig ans Ziel zu bringen.
Was folgt darauf in der zweiten Welle?
In der zweiten Welle wird es zu Problemen durch Überbestände kommen. Ware, die verspätet aus Asien eintrifft, hat eigentlich keinen Platz mehr auf der Fläche, da der Verkaufszeitraum theoretisch schon abgeschlossen ist und bereits Folgeneuheiten auf die Fläche drängen. In China kommt hinzu, dass derzeit viele Geschäfte geschlossen sind und damit ohnehin schon ein massiver Mehrbestand vorhanden ist.
Wie werden die Händler darauf reagieren?
Die Händler stehen damit vor der Herausforderung, diese Überbestände zu beseitigen, um die Flächen für Neuware frei zu machen. Das funktioniert nur mit höheren Preisabschriften oder der Abgabe der Ware an Outlets oder Drittverwerter. Dies wird zu deutlichen Einbußen bei der Profitabilität führen. Es ist zu hoffen, dass die Produktion in China zeitnah wieder in gewohnter Kapazität anläuft und sich das Coronavirus nicht auf weitere asiatische Märkte ausbreitet. Sonst besteht das Risiko, dass auch Mengen ausfallen, die aktuell noch von anderen großen Beschaffungsmärkten wie zum Beispiel Bangladesch aufgefangen werden können. In einer solchen Situation wird es kaum mehr möglich sein, die Warenversorgung mit Bekleidung stabil zu halten, da bestehende Kapazitäten in Europa und Nordafrika bei weitem nicht ausreichen.
Wo sind die Auswirkungen der Virus-Epidemie am stärksten und wie gehen die Modekonzerne mit Importrückgängen aus Asien um?
Momentan ist die Produktion in China am stärksten betroffen. Aber auch andere Beschaffungsmärkte wurden deutlich in Mitleidenschaft gezogen, da Materialien für die Produktion aus China nicht nachgeliefert werden können. Aktuell versucht man die stockende Beschaffung durch die Verlegung der Produktion in andere Märkte abzufedern. Insbesondere Bangladesch, Vietnam und die Türkei sind hier zu nennen. Das funktioniert jedoch nur begrenzt, da gerade bei komplexeren Produkten wie zum Beispiel Sportbekleidung und Schuhen ein kurzfristiger Austausch der Lieferanten nur bedingt möglich ist.
Wirken sich die Lieferengpässe bereits auf die Sortimente in den deutschen Läden aus, etwa dahingehend, dass sich die Kollektionszyklen in den Bekleidungsketten verlangsamen?
Noch sind die Auswirkungen im Handel kaum sichtbar. Ware, die im Februar produziert wird, findet sich normalerweise im März oder April auf der Fläche. Falls die Produktion in China zeitnah wieder anläuft, werden Kunden in Europa wenig bemerken. Vorübergehende Lücken im Sortiment können temporär dadurch ausgeglichen werden, dass Neuheiten der Vormonate länger auf der Fläche bleiben und die Präsentationsdichte etwas reduziert wird, bis die verzögerte Neuware eintrifft oder die Folgekollektionen für Mai und Juni da sind. Wenn allerdings auch die Folgemonate betroffen sein sollten, dann wird sich das Problem auch auf der Fläche kaum noch kaschieren lassen.
Wie kommuniziert die Modebranche die Auswirkungen gegenüber ihren Kunden?
Bislang halten sich die Unternehmen in der Kommunikation gegenüber Kunden zurück. Sie hoffen, dass sich die Probleme auf der Sortimentsseite unauffällig lösen lassen und dass die aktuelle Situation nicht länger anhält.
In welcher Weise sollten Modeunternehmen ihre Lieferketten umstellen, um künftig solche Engpässe besser bewältigen zu können?
Man muss klar sagen, dass man sich für Ereignisse dieser Dimension immer nur eingeschränkt wappnen kann. Dennoch ist es wichtig, die Beschaffung auf eine breitere Basis zu stellen und auch in einzelnen Produktgruppen die Fähigkeiten zu besitzen, mit Alternativlieferanten in verschiedenen Weltregionen zu arbeiten. Hier haben viele Marken noch Aufholbedarf.
Zur Person: Peter Rinnebach ist Partner bei Kurt Salmon, Teil von Accenture, einer seit mehr als 80 Jahren auf Handels- und Modeunternehmen spezialisierten Unternehmensberatung. Kurt Salmon unterstützt eine Vielzahl weltweiter Modeunternehmen von Sortimentsplanung über Produktentwicklung und Beschaffung bis hin zur Digitalisierung der Kundeninteraktion.