Künstliche Intelligenz und nicht sichtbare Interfaces bestimmen die Zukunft der Interaktion zwischen Unternehmen und ihren Kunden – da sind sich Experten einig. Schon heute erfolgt jede fünfte mobile Suchanfrage bei Google nach Eigenangaben via Sprachbefehl. Laut Forbes sollen 2020 bereits 85 Prozent aller Customer Business Relations ohne menschliche Interaktion stattfinden. Wenn also Produkte und Services künftig primär über Sprache gesucht, gekauft und gesteuert werden: Wie können Marken diese Schnittstelle in ihrem Sinne ausgestalten und sie signifikant von Konkurrenzangeboten unterscheidbar machen?
Obwohl es schon heute technisch möglich ist, Stimm-Interfaces zu individualisieren, sprechen die meisten Unternehmen derzeit – wenn überhaupt – „Alexa“ oder bedienen sich anderer Infrastrukturen, wie zum Beispiel der von Google-Assistent.
Use-Case vor Brand Experience?
Derzeit konzentrieren sich die Bemühungen vieler Unternehmen allerdings primär darauf, Sprachsteuerung und Chatbots ganz grundsätzlich anzubieten, das heißt, entsprechende Schnittstellen zu schaffen und relevante Skills für Alexa und Co. zur Verfügung zu stellen.
„Es gibt bereits viele unterschiedliche Use-Case-spezifische Angebote, die zwar für sich gesehen funktionieren, die aber häufig einen gemeinsamen „roten Faden“ in der Experience vermissen lassen. Das erinnert an die Anfangstage des Corporate Designs, wo alle Medien optisch nichts miteinander zu tun hatten und erst einmal „aufgeräumt“ werden musste. So gibt es heute viele Bots und Sprachservices, die nichts miteinander zu tun haben“, sagt Lisa Krick, Strategin der Markenberatung MetaDesign.
Ein Grund für die derzeitige Vernachlässigung der Marke ist häufig eine zu späte und oder nicht erfolgte Einbindung der Markenverantwortlichen. Development und Branding konkurrieren um Bedeutungshoheiten:
- Agile Sprintprozesse versus nachhaltige Markenentwicklung
- Performance/Conversion versus Brand Experience
- Usability versus Differenzierung
Dabei wollen eigentlich alle das Gleiche: die beste Lösung für den User – und damit letztendlich für die Marke/das Unternehmen.
Mindestens genauso wichtig wie der funktionale Nutzen eines Assistenzsystems ist die Frage nach der emotionalen Ebene der Interaktion. Wie sollte eine Marke klingen? Was sollte sie sagen oder schreiben? Wie reagiert sie und welche Haltung verkörpert sie?
Denn genau wie sich der visuelle Auftritt einer Marke implizit codieren lässt, sind auch Sprache, Stimme und Konversation gestaltbar und können Markenbilder erzeugen und steuern.
Entscheidender Touchpoint muss Marke repräsentieren
Zukünftig wird es darum gehen, bei der Entwicklung dieser Schnittstellen Funktionalität und Marke sinnvoll miteinander zu verbinden und Prozesse aufzusetzen, die Developer und Markenexperten gemeinsam in die Lage versetzen, die beste Lösung für den Nutzer an den Markt zu bringen, meint die Branding-Spezialistin.
Prozesse in dieser Weise auszugestalten setzt allem voran ein systematisches und fundiertes Vorgehen voraus, Marken in menschennahe Dialogpartner mit Haltungen, Meinungen und Charaktereigenschaften zu übersetzen.
Im Rahmen einer gerade veröffentlichten Studie unter der Leitung von Krick hat die Markenberatung MetaDesign sich genau dieser Aufgabenstellung gewidmet.
Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team, bestehend aus Endkunden, Research-Experten und Psychologen des renommierten Marktforschungsinstituts eyesqare sowie UX-Fachleuten, Entwicklern, Ton- und Sprachspezialisten, wurden vier starke, am Markt etablierte und sehr unterschiedliche Marken in exemplarische, prototypische Sprachassistenten-Persönlichkeiten überführt. Bei den betrachteten Marken handelt es sich um den Carsharing-Service car2go, den Online-Versandhändler Zalando, den Energy-Getränkehersteller Red Bull und die Commerzbank.
Aus Marken werden echte Persönlichkeiten
Entstanden sind dabei vier charismatische Persönlichkeiten: der lässige Mattis für Red Bull, der Socializer Julian für car2go, die smarte Anna für Zalando und der empathische Thomas für die Commerzbank. Alle vier lassen sich auf der eigens für die Studie eingerichteten Microsite näher in Augenschein nehmen. Es ist möglich, ein bisschen mit ihnen zu plaudern, sie zum Beispiel nach einem Witz oder ihrem Lieblingssong zu befragen.
„Die Ergebnisse der Studie fußen im Prinzip auf drei Säulen: zum einen auf die Erkenntnisse der Sprachwirkungs- und Persönlichkeitsforschung. So zeigt diese unter anderem, dass es tatsächlich möglich ist, Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen anhand seiner Stimme zu ziehen. Der zweite Punkt: eine ausgefeilte Methodik. Wir haben sowohl explorative, spielerische als auch explizite und implizite quantitative Methoden herangezogen, um uns den Marken anzunähern. Last but not least: Ein solcher Prozess muss interdisziplinär und konsequent User-zentriert erfolgen“, erläutert Krick.
In User-Workshops mit Markennutzern waren die vier Marken zunächst mithilfe projektiv-assoziativer Techniken in Persönlichkeits- und Stimmbeschreibungen überführt worden. Mithilfe eines Live-Sketchers entstand auf Basis des Probanden-Inputs ein Profilbild des jeweiligen Markencharakters. Anhand der Ergebnisse der Fokusgruppen wurden ein Charakter-Steckbrief der Markenpersönlichkeit erstellt und ein Stimmprofil abgeleitet. Davon ausgehend, startete die Identifikation geeigneter Markenstimmen. Im Rahmen einer Online-Survey wurden dann 2.000 Panelteilnehmer zu Persönlichkeitsmerkmalen, Stimmprofilen, Stimm- und Conversation-Samples der Marken befragt.
Als marktreifen Sprachassistenten für die vier Marken will Krick die vier Charaktere aber nicht verstanden wissen. Sie sind eher prototypisch zu verstehen, sie nennt sie „interaktives Briefing für markenadäquate Konversation – eine mediumgerechte Möglichkeit, sich in die Markenpersönlichkeiten auseinanderzusetzen, sie kennenzulernen und passende Lösungen für sie zu entwickeln.“
„Mattis, Julian, Anna und Thomas sind lediglich als Annäherung zu verstehen“, sagt Krick. Letztlich würde eine reelle Umsetzung anders aussehen, denn es gibt für die Entwicklung noch viele weitere zu berücksichtigende Einflussgrößen: Wie will das Unternehmen selbst wahrgenommen werden? In welchem Kulturkreis soll das System zum Beispiel eingesetzt werden? Ebenso würden markenstrategische Größen mit in die Entwicklung einfließen. So könnte es beispielsweise sinnvoll sein, für unterschiedliche Produktkategorien unterschiedliche Persönlichkeiten zu entwickeln. Hier müsse man deutlich tiefer einsteigen als das im Rahmen einer solchen Studie möglich sei.
Handlungsdruck steigt
„Uns ging es mit der Studie primär darum, einen Prozess zu entwickeln, der Conversation Branding überhaupt möglich macht, und zu zeigen, dass es notwendig ist, Marke vor dem Hintergrund der neuen Möglichkeiten völlig neu zu denken. Wenn man das Thema konsequent zu Ende denkt, kommt die Markenwelt mit tradierten Methoden hier nicht weiter. Die Erkenntnisse, die wir durch die Studie gewonnen haben, sind für uns und hoffentlich auch für andere immens wertvoll.“
Ob einfacher Chatbot oder komplexes Voice-Assistent-System – in Anbetracht der enorm wachsenden Bedeutung dieser Schnittstelle zum Konsumenten und der gleichzeitig rasanten Entwicklungsdynamik betont die Markenexpertin den Handlungsdruck für Unternehmen: „Fakt ist: Wenn sich Systeme auf funktionaler Ebene sukzessiv qualitativ angleichen – und das werden sie aufgrund der immer besser werdenden technischen Möglichkeiten –, ist die Markenpersönlichkeit der einzige Differenzierungsfaktor. Unternehmen, die nicht jetzt allerspätestens damit beginnen, an Lösungen zu arbeiten, riskieren nichts Geringeres als ihre Zukunftsfähigkeit.“
Weitere Informationen zur Studie und Live-Chats mit den Bots bekommen Sie über diesen Link.
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