Herr Fritz, Viva con Agua de St. Pauli gibt es seit knapp 20 Jahren. Seitdem brauchen immer mehr Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Denken Sie manchmal, Ihre Arbeit ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Nein, ich kenne andere Zahlen. Als wir angefangen haben, hatten 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, jetzt sind es 703 Millionen Menschen, die keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. 411 Millionen von ihnen fehlt jegliche Trinkwasserinfrastruktur. Es geht in die richtige Richtung, auch wenn die Herausforderungen durch den Klimawandel zunehmen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen leben rund vier Milliarden Menschen in Gebieten, die mindestens einen Monat pro Jahr extrem wasserarm sind – der Klimawandel verschärft die Situation zusätzlich …
Das Wasser wird auch knapper, nur der Zugang wird größer, das gilt auch für Deutschland. Zu Ihrer Frage: Nach jeder Projektreise denke ich mir: ‚Cool, jetzt haben wir 100.000 Menschen mit sauberem Trinkwasser versorgt.‘ Aber dann sehe ich die Zahlen: Im arabischen Raum gibt es 500 Millionen Jugendliche zwischen 16 und 22 Jahren ohne Chancen auf Ausbildung oder Studium. Das ist ein Nährboden für Terrorismus. Da helfen nur umfassende Verhandlungen aus Empathie, nicht aus Hegemonialmacht oder patriarchalen Systemen.
Wie schaffen Sie es bei Viva con Agua, den Fokus auf positive Veränderungen zu richten?
Die Welt hat viele Probleme, aber auch viel Gutes. Es kommt darauf an, worauf wir unseren Fokus richten. Ich habe den Luxus, mich nicht ständig auf Krisengebiete wie Gaza konzentrieren zu müssen. Würden wir uns gegen Genitalverstümmelung engagieren, wäre es viel schwieriger, Spenden zu sammeln und Menschen zu aktivieren. NGOs sind wie Medikamente, sie lindern Symptome, ändern aber nicht die Strukturen. Wir müssen die Narrative und Kultur ändern, das dauert.
Wie müssen Narrative aussehen, damit sie die Herzen der Menschen erreichen?
Das Allerwichtigste ist Ehrlichkeit. Wenn Menschen sehen, dass man es ernst meint und reflektiert ist, dass man Feedback und Kritik annimmt und sich Gedanken macht, dann erreicht man sie. Kommunikation ist meine größte Stärke und gleichzeitig meine größte Schwäche.
Wie meinen Sie das?
Für mich selbst und Viva con Agua geht es darum, keine künstlichen Geschichten nach außen zu tragen. Ich bin wie ich bin und verstelle mich nicht nach Außen – egal ob ich auf einer Bühne sitze, auf Social Media poste oder hier im Interview. Das Wort authentisch trifft es vermutlich gut, auch wenn ich das Wort nicht mag. Das meine ich mit Ehrlichkeit, die Menschen erreicht.
Viele Prominente nutzen ihren Einfluss, um soziale und politische Botschaften zu verbreiten. Wie beurteilen Sie das Engagement von Prominenten?
Prominente sollten sich ihrer Verantwortung viel mehr bewusst sein. Taylor Swift hat als Trump-Gegnerin einen großen Einfluss in Swing States, aber gleichzeitig sollte man auch ihren Privatjet-Konsum kritisch hinterfragen. Eine Öko-Kalkulation für ihren Privatjet wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Es geht darum, Prominente dazu zu bewegen, nicht nur politisch aktiv zu sein, sondern auch ökologisch verantwortungsvoll zu handeln.
Jede Bewegung hat einen charismatischen Führer oder eine charismatische Führerin. Sehen Sie sich in jener Rolle?
Nein, wir sind ein Kollektiv mit vielen charismatischen Persönlichkeiten. Ich bin in diese Rolle hineingewachsen, weil ich konsequent Social Media gemacht habe. Es gibt viele Menschen, die für unseren Erfolg mitverantwortlich sind, wie Benni (Benjamin Adrion, Anmk. d. Red.). Ich würde mir wünschen, dass es mehr diverse Stimmen gibt, die gehört werden. Social Media ist ein schwieriges Feld, weil der Algorithmus oft narzisstisches Verhalten belohnt. Man muss viel an sich selbst arbeiten und wiederkehrende Formate entwickeln, um relevant zu bleiben.
Viva con Agua ist mehr als ein gemeinnütziger Verein, es ist für viele auch eine Love Brand. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin kein Branding-Experte, aber ich glaube, wir sind keine klassische Brand. Viele Marken machen Dinge, um als Brand wahrgenommen zu werden. Wir haben von Anfang an authentisch und ehrlich kommuniziert, was wahrscheinlich dazu geführt hat, dass Menschen uns als Love Brand sehen. Unser Ansatz ist nicht, Produkte schöner zu machen, die nicht schön sind, sondern echte Werte zu vermitteln.
Sie machen nicht nur Spendenaktionen, sondern auch Social Business. Kann jedes Unternehmen einen guten Einfluss auf die Gesellschaft nehmen?
Ja, ich glaube sogar, dass jedes Unternehmen das tun sollte. Viele vergessen, dass sie allein durch ihre Mitarbeiter*innen und durch das Zahlen von Steuern einen positiven Einfluss haben. Ich glaube an die Gemeinwohlökonomie und nicht an die Börse, die nur die Reichen noch reicher macht. Es geht darum, Zugang zu sauberem Trinkwasser, Bildung und anderen Ressourcen zu schaffen. Die Börse ist ein Ökosystem, zu dem viele keinen Zugang haben. Die Strukturen müssen so gestaltet werden, dass alle eine Chance haben.
Wäre eine Teilhabe am Wohlstand nicht auch über den Zugang für alle zur Börse möglich?
Wenn alle die gleichen Voraussetzungen an der Börse hätten – vielleicht. Aber wir starten nicht alle bei null. Manche haben einen Vorsprung und damit einen Vorteil. Und das sind die großen Player. So ist es doch überall im Leben. Ich bin mit Privilegien aufgewachsen. Dazu zähle ich ein gutes Elternhaus und eine gute Bildung. Und ich hatte die besten Voraussetzungen, um mich selbst zu verwirklichen. Nicht jeder Mensch hat die gleichen Startvoraussetzungen im Leben – in Deutschland und erst recht nicht global betrachtet.
Wie steht es mit der Haltung im Marketing?
Greenwashing und Pinkwashing sind problematisch, aber sie schaffen auch Druck, sowohl intern als auch extern. Mitarbeiter*innen und Außenstehende prüfen, ob Firmen wirklich nachhaltig sind. Große Festivals und Konferenzen sind wichtig, um ein breites Publikum zu erreichen. Es ist einfach, in der eigenen Blase zu bleiben, aber Entwicklung entsteht außerhalb der Komfortzone. Wir müssen dahin gehen, wo wir sonst nicht hinblicken, und echte Gespräche führen. Alle unsere Projekte und Initiativen sind außerhalb unserer Komfortzone entstanden.
Ihr Credo ist: Als NGO hat man nie Geld, deshalb braucht man Kreativität. Können Sie das bitte erklären?
Natürlich ist Geld manchmal notwendig, aber wir hatten nie viel davon. Benni war zwar Profifußballer beim FC St. Pauli, aber er hat nicht ausgesorgt, wie viele denken. Wir mussten immer Konzepte entwickeln, wie Menschen sich engagieren können und dabei Spenden generieren. Das hat uns dazu gebracht, einfache, skalierbare und sexy Ideen zu entwickeln, die in der Jugendkultur Anklang finden. Ohne großes Budget muss man kreativ sein und innovative Wege finden, Menschen zu erreichen.
Wie entstehen bei Viva con Agua Ideen?
Ideen entstehen in Raum und Zeit, durch die Menschen, die man trifft, und die Erlebnisse, die man hat. Es ist wichtig, einen Safe Space für Ideen zu schaffen, wo sie nicht sofort kritisiert werden. Ideen sind wie zarte Wesen, und man sollte sie liebevoll behandeln, ähnlich wie Kinder. Ich habe gelernt, wem ich meine Ideen erzählen kann, um sie nicht zu früh kaputt machen zu lassen.