Als brauner Teint in den 90er Jahren zum Schönheitsideal erkoren wird, lernt Alicia Lindner das Eincremen. Besonders im Sommer soll sich das Mädchen immer wieder vor den UV-Strahlen schützen. Die seien sehr schlecht für die Haut, mahnt ihr Vater Michael. Protestieren gegen das nervige Prozedere: zwecklos. Immerhin ist der Schutz der Haut Familiensache. Der Vater führt zu dieser Zeit in zweiter Generation das Familienunternehmen Annemarie Börlind, Pionier in der Naturkosmetik. Heute ist es Alicia, die die Geschicke der Firma lenkt. Den Posten in der Geschäftsführung teilt sie sich mit ihrem Bruder Nicolas. „Ich kann mir keinen besseren Job vorstellen“, sagt die 34-Jährige und ergänzt lachend: „Vielleicht noch den meines Bruders.“
Die Freude an ihrem Beruf strahlt Lindner aus jeder Pore. Im Gespräch erklingt ihr Lachen oft, herzlich und ansteckend. So sind Menschen, die das gefunden haben, was sie ausfüllt. Lindner ist ein Familienmensch, sie wohnt mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in der 3000-Einwohner-Gemeinde im Schwarzwald, in der sie aufgewachsen ist. Gleichzeitig leitet sie ein international agierendes Unternehmen. Der Nachwuchs besucht denselben Kindergarten wie Lindner damals. „Ich kenne hier jeden Strauch. Das Großstadtleben kickt mich nicht mehr, das hatte ich zur Genüge.“
Auf das Bauchgefühl zu hören, den unkonventionellen Weg zu gehen, scheint das Erfolgsgeheimnis der Familie zu sein. Geflüchtet aus der DDR, bauen sich die Lindners in den 60er Jahren im Schwarzwald eine neue Existenz auf. Es ist die Zeit, in der Frauen ohne ihren Ehemann nicht einmal ein Bankkonto eröffnen dürfen. Die Lindners sind im Ort die „Neuen“, die „von drüben“. Vielleicht hängt Alicia Lindner auch deshalb so sehr an ihrer Heimat. „Die Omi“, wie sie ihre Großmutter Annemarie liebevoll nennt, glaubt an den Erfolg ihrer Naturkosmetik, doch das Geschäft läuft zunächst schleppend. Annemarie Börlind reist teils wochenlang durch Deutschland, nächtigt statt in Hotels in günstigen Pensionen. „Sie hat die Marke Börlind mit viel Schweiß und Tränen aufgebaut, aber auch mit viel Leidenschaft.“
Langsam und gesund wächst der Umsatz. Doch Produkte aus Erdöl und mit Silikonen sind eher gefragt – vor allem die Ware aus Paris, New York und Tokio. Die Cremes, Öle und Essenzen aus dem Schwarzwald werden skeptisch beäugt. „Unsere Produkte waren damals die uncoolsten“, sagt Lindner und lacht. „Damals sind wir nicht erfolgsverwöhnt aufgewachsen. Das hat erst in den letzten zehn Jahren Fahrt aufgenommen. Davor war der Erfolg von Naturkosmetik überschaubar.“ Heute macht Börlind einen Jahresumsatz von 60 Millionen Euro.
Alicia Lindner: Krise können wir
Lindner möchte das Erbe der Großmutter weitertragen. „Aber nicht im pathetischen Sinne“, sagt sie. Sie liebe einfach ihren Job, nimmt das Erbe nicht als Bürde wahr. Vielmehr versuche sie, sich von dem Gedanken zu lösen, dass mit einem großen Namen auch eine große Verantwortung einhergeht. Mit der Liebe zum Beruf kommt die Leichtigkeit.
Der Zeitpunkt, zu dem Alicia Lindner die Stelle als Co-Geschäftsführerin übernimmt, scheint genau richtig zu sein. Sie ist gerade zum ersten Mal Mutter geworden, hat sich viel Zeit genommen, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. „Wir haben dann von einem Virus aus China gehört, das gerade grassieren soll. Drei Wochen später ist das Chaos über die Welt hereingebrochen“, sagt sie. Niemand wusste, wie mit der neuen Situation umzugehen ist. „Das heißt aber auch, niemand wusste es besser.“ Produzierende Unternehmen wie Börlind müssen auf einmal viele neue Maßnahmen ergreifen und Auflagen einhalten, etwa Hygienekonzepte oder Homeoffice-Regelungen, und das für verschiedene Abteilungen. Irgendwann sei alles zu komplex geworden, um jeden notwendigen Schritt überblicken zu können. In dieser Phase war das Beste: nicht von oben herab bestimmen. Lindner gab die Verantwortung ab, überließ den Abteilungsleiter*innen die Entscheidungshoheit für ihren Bereich.
„Mein Vater hätte das sicherlich anders getan“, sagt Lindner. Michael Lindner übernahm 1996 die Leitung von Börlind in Alleinregie. Er habe das Unternehmen eher patriarchalisch geführt, nicht immer einfach sei es mit ihm als Führungsfigur gewesen. Doch das Loslassen und das Vertrauen in die Mitarbeiter*innen entpuppt sich als richtiger Wegweiser für die junge Geschäftsführerin. „Ich habe gesehen, welchen Druck die hohe Verantwortung bei meinem Vater ausgelöst hat. Ich glaube, das kommt in Teilen auch daher, wenn man Dinge nicht abgeben kann.“ Seit 2020 weiß Lindner: „Krise können wir.“
Schwarzwald, Stuttgart, Hamburg, New York, Schwarzwald
Hinzu kommt: Alicia Lindner schätzt ihre Mitarbeiter*innen bei Börlind. Sie könne es zwar verstehen, wenn manche Menschen auf dem Weg zum Bäcker nicht immer mit einer Kollegin oder einem Kollegen sprechen wollten. „Ich finde sie super“, sagt sie und lacht ihr ansteckendes Lachen. „Das sind gute Menschen, die ich auch privat sehr gern mag. Ich brauche die Anonymität nicht mehr.“
Das war mal anders. Mit 16 Jahren zieht sie mit ihrem Bruder in eine WG nach Stuttgart. Es folgen Stationen in Hamburg und New York. Toll sei die Zeit in Big Apple gewesen. Heimweh habe sie damals nicht gehabt. Erst seitdem die eigenen Kinder da sind, kennt sie dieses Gefühl.
Seit drei Jahren wird das Familienunternehmen von Alicia und Nicolas Linder in dritter Generation geführt. Viele raten den Geschwistern von der Doppelspitze ab. Vor allem der Vater hatte Zweifel. Zu groß sei das Streitpotenzial. Doch die beiden hören nicht auf die anderen, das haben sie selten getan. Auf dem unkonventionellen Weg fühlen sich die Lindners am wohlsten. Auch bei Alicia Lindner hat auf diese Weise schon viel geklappt.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Marken-Award 2023!