Eine Antwort ist weit verbreitet: Das Konzept Marke ist am Ende. Zu Grabe trägt es der „neue“ Konsument: skeptisch, wohl informiert, souverän in seinen Kaufentscheidungen. Eigentlich der „neue“ Mensch – ob als Konsument oder politischer Bürger: „Respect for traditional voices of authority – from priests to political leaders – has eroded. So has their faith in brands“ (The Economist, February 1, 2014).
Vor dem Karriereende?
Dies ist sicher eine denkbare Analyse moderner Konsumgesellschaften. So wie traditionelle soziale Institutionen an Respekt, Vertrauen und Autorität im politisch-sozialen Zusammenleben verlieren, so verlieren dann auch Marken ihren Einfluss auf das Verhalten von Konsumenten. So wie politische Institutionen, staatliche Einrichtungen oder soziale Interessenverbände zunehmend durch Fehlverhalten und Missstände auffallen und dadurch in Sinnkrisen geraten, so bringen es insbesondere neue soziale Medien öfters, schneller und breitenwirksam ans Licht, wenn sich
Marken gesellschaftlich inakzeptabel verhalten. Und so wie der Mitgliederschwund Vereine, Parteien und Verbände plagt und zurückgehende Wahrbeteiligung die Demokratie gefährdet, so werden Konsumenten mehr und mehr zum wirtschaftlichen Risiko als Kunde, „der falsch, also zu wenig, konsumieren könnte“ (Wolfgang Streeck in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juli 2014).
Aber es könnte auch das genaue Gegenteil eintreten. Je mehr traditionelle soziale Institutionen in Krisen geraten – was unübersehbar der Fall ist –, umso mehr drängen Marken in diese Lücke. Sie leiten dann das Verhalten von Menschen über den Bereich des Konsums hinaus. Sie werden zum erfolgsnotwendigen Bestandteil nicht nur des Marketings von gewinnorientierten Unternehmen, sondern entscheiden mehr und mehr über die Entwicklungschancen auch von non-profit- Organisationen, öffentlichen Körperschaften oder sozialen und religiösen Einrichtungen. Und sie entscheiden mehr und mehr darüber mit, wie wir als Gesellschaft zusammen leben, durchdringen traditionell nicht marktorientierte Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung oder Sicherheit.
Auf der Überholspur?
Einiges spricht für die Erfolgschancen der für Marken optimistischen Diagnose. Da ist zunächst die historische Dimension. Marken haben sich keineswegs im Einklang mit den eingangs zitierten traditionellen Autoritäten entwickelt. Sie betraten viel später, mit größter Macht wohl erst in der jüngeren Vergangenheit, die gesellschaftliche Bühne. Sie stehen wohl eher am Anfang ihrer Karriere – ganz im Gegensatz zu Vereinen, Verbänden, Behörden oder Parteien.
Und auch in aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Debatten bewegen sich Marken doch eher auf der Überholspur – während andere Einrichtungen auf den Pannenstreifen wechseln müssen. Sehr weit verbreitet ist die Besorgnis, dass das manische Datensammeln von staatlichen Einrichtungen (vom Einwohnermeldeamt bis zum Geheimdienst) die Demokratie zu gefährden droht. Ganz anders sieht die Analyse aus, wenn es um die gleichartige Sammelwut des modernen Marketings geht: „Aber werden die Kunden nicht irgendwann erschrecken, wenn ihnen klar wird, was ihre Lieferanten alles über sie speichern, und sich aus ihrer Verstrickung in das Netz zu befreien versuchen? Wohl kaum.“ (Streeck) Warum?
Eine erste Antwort liefert der Volksmund: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Sozialpsychologen und Entscheidungstheoretiker eint die empirisch gesicherte Einsicht, dass der moderne Konsument mehr und mehr nur dank Marken die Qual der Wahl ertragen kann. Kapitalismuskritiker, schließlich, mussten auch erkennen, dass (objektive) ökonomische Ausbeutung nicht zwingend zum entsprechenden politischen Widerstand führt.
Ganz wie die offensichtlichen Auswüchse rund um Big Data in der modernen Konsumgesellschaft nicht automatisch zur Konsumverweigerung führen. Die zunehmende Macht von Marken erregt bisher nur sehr vereinzelt Widerstand gegen sie. Für die Mehrheit der Menschen bieten Marken gerade angesichts der überbordenden Komplexität des digitalen Zeitalters überlebensnotwendige Orientierung. Sie schaffen entspannendes Vertrauen, wo ansonsten Anonymität, Zynismus, Zweifel und Unsicherheit zerstörerisch herrschen. Und sie machen attraktive Identifikationsangebote, wo gefeierte Individualität massenhaft zu ängstigender Isolation mutiert. Gerne (re-)interpretieren deshalb gerade selbsternannte souveräne Konsumenten die Datensammelwut von Marken als besonderes Zeichen der Serviceorientierung, ja der Fürsorge, ihnen gegenüber.
Über den Autor: Dr. Jürgen Häusler ist Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreut zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig, publiziert laufend zum Thema Marke und hält Vorträge an Universitäten, auf Kongressen und Tagungen.